Die Geschichte unseres Körpers
Der Fisch in uns
Das Buch des US-amerikanischen Paläontologen Neil Shubin erzählt die faszinierende Geschichte der fortwährenden Verwandlungen des menschlichen Körpers, basierend auf neuesten Erkenntnissen der Paläontologie und der vergleichenden DNA-Forschung.
8. April 2017, 21:58
Ein Blick durch Gitterstäbe auf Gorillas, Orang Utans oder Schimpansen löst meist vielfältige Gefühle aus: Faszination, Rührung - und auch Erschrecken; sind doch viele Verhaltensweisen der Menschenaffen den unseren frappierend ähnlich. Dass der Mensch zwar nicht vom Affen abstammt, die beiden aber gemeinsame Vorfahren haben, ist seit langem bekannt. Dass uns aber auch mit allem anderen Lebendigen um uns herum sehr viel verbindet, gehört dagegen nicht zum Allgemeinwissen, mag auf's erste auch ein bisschen befremdlicher sein, wurde aber durch Forschungen in den vergangenen Jahrzehnten immer klarer.
"Der Fisch in uns" von Neil Shubin erzählt sehr konzentriert - auf nicht einmal 250 Seiten - und dennoch unterhaltsam die hochkomplexe Geschichte unseres Körpers. So erfährt man zum Beispiel, wie sich unsere Hände und Füße über mehrere hundert Millionen Jahre hinweg zunächst bei Fischen und dann über Amphibien und Reptilien weiterentwickelt haben.
Grandiose Entdeckung
Der Autor selbst, Universitätslehrerfür Paläontologie in Chicago, hat vor vier Jahren in der Arktis eine der Übergangsformen zwischen Wasser- und Landlebewesen entdeckt, in einem 375 Millionen Jahre alten Sedimentgestein.
Ich hämmerte auf den Boden des Steinbruchs, musste dabei aber häufiger auf Eis schlagen als auf Gestein. Als ich wieder einmal das Eis beseitigte, bot sich mir ein Anblick, den ich nie mehr vergessen werde: ein geschupptes Stück, das ganz anders aussah als alles, was uns bisher begegnet war.
Das, was Neil Shubin da freigelegt hatte, erwies sich als der spektakulärste Fossilfund seit der Entdeckung des Urvogels Archäopterix: ein Fisch mit Ober- und Unterarmknochen, mit Fingern und Handgelenken, verpackt in einer Flosse. Diese Konstruktion ermöglichte den Tieren eine Art von Liegestütz-Haltung in flachen Flüssen.
Einzigartige Konstruktion Mensch
Ob Fisch, ob Frosch, ob Fledermaus oder Mensch - all diese Lebewesen haben einen sehr ähnlichen Aufbau ihrer Gliedmaßen. Neil Shubin schreibt von "Variationen des gleichen Themas" im Lauf der Evolutionsgeschichte. Das Wissen um diese Zusammenhänge bedeute jedoch nicht, so der Autor, dass der Mensch kein einzigartiges Lebewesen sei - im Gegenteil.
Alle unsere ungewöhnlichen Fähigkeiten erwachsen aus Grundbestandteilen, die sich während der Evolution uralter Fische und anderer Lebewesen gebildet haben. Aus Teilen, die wir mit ihnen gemeinsam haben, entstand eine einzigartige Konstruktion. Wir sind von der übrigen Welt des Lebendigen nicht getrennt, sondern gehören zu ihr._
Diese Zugehörigkeit spiegelt sich nicht nur in unserem Knochenbau, sondern auch in unseren Genen. So haben DNA-Analysen beispielsweise den Nachweis erbracht, dass alle Körperanhänge, ob Flossen oder Gliedmaßen, von ähnlichen Genen aufgebaut werden.
Überaus anschaulich gelingt Shubin auch die Schilderung, wie und woraus sich unsere Sinnesorgane entwickelt haben. So bildeten sich zum Beispiel die drei Gehörknöchelchen im Mittelohr aus Knochen, die sich bei Reptilien ganz hinten im Kiefer befinden, sowie aus dem Oberkiefer von Fischen.
Mikroben als Teil der Menschheitsgeschichte
Neil Shubin treibt seine Suche nach Verwandtschaftsbeziehungen aber noch weiter und spürt solche sogar bei schädellosen Lebensformen auf, bei fossilen Würmern und dem berühmten Lanzettfischchen, einer heute noch existierenden Übergangsform zu den Wirbeltieren, das statt eines Rückgrats einen zentralen Nervenstrang, eine erste Rückenchorda und Kiemenschlitze besitzt, sowie Kiemenbögen mit dazugehörigen Knorpelbalken. Daraus ergibt sich eine interessante Verbindung zu unserem Körper.
Wie der Knorpel, aus dem unsere Kiefer, unsere Gehörknöchelchen und Teile unseres Kehlkopfes hervorgehen, so dienen auch diese Stäbe als Stütze für den Kiemenschlitz. Die wesentlichen Teile unseres Kopfes lassen sich also auf Würmer zurückführen, das heißt auf Lebewesen, die noch nicht einmal einen Kopf hatten.
Aber damit nicht genug: Der Autor treibt die Verwandtschaftsforschung sozusagen ins Extrem, indem er darlegt, dass selbst die einfachsten Lebewesen wie Mikroben zu unserer Geschichte gehören – weil die von ihnen verkörperten grundlegenden zellulären Eigenschaften spätere vielzellige Körper überhaupt erst möglich gemacht haben.
Spannend aufbereitet
Bei der Beschreibung des menschlichen Körpers als einer Zeitkapsel, in der die Geschichte des Lebendigen gespeichert ist, gelingt es Shubin immer wieder, den Leser in Erstaunen zu versetzen - etwa dann, wenn er darauf hinweist, dass der Schluckauf, das Schnackerl, aus jenem Teil der Entwicklungsgeschichte herstammt, den wir mit Fischen und Kaulquappen teilen; und dass auch die Neigung zum Leistenbruch mit den Relikten des Fisches in uns zu tun hat.
In welch hohem Maß der Mensch ein Produkt der Evolution, wie sehr er mit tatsächlich allen anderen Lebewesen verwandt ist, kann natürlich beharrlichen Leugnern der Evolution nicht gefallen, wie sie – etwa als Kreationisten - vor allem in den USA immer stärker auch den Schulunterricht beeinflussen. Und ganz sicher hat dieser Umstand den Paläontologieprofessor aus Chicago ganz besonders motiviert, nicht nur ein sachkompetentes, sondern auch ein kompaktes, sehr gut lesbares, ja über weite Strecken unterhaltsames Buch über ein allerdings auch ungemein spannendes Thema zu schreiben.
Dass Neil Shubin, bei aller Vereinfachung und all seiner Neigung zur Pointierung - und trotz der gewiss nicht geringen Versuchung zur Polemik - niemals wissenschaftliches Argumentationsniveau verlässt, ist ihm besonders hoch anzurechnen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Neil Shubin, "Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers", aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sebastian Vogel, S. Fischer Verlag
Link
S. Fischer Verlag - Der Fisch in uns