Geschichten von kleinen Leuten

Die zwei Leben des Raymond Carver

Man verglich ihn mit Hemingway und Tschechow und feierte ihn als literarischen Minimalisten: Raymond Carver, der Arbeitersohn aus Oregon, der in den 1970er und 80er Jahren in den USA zu "jedermanns Lieblingsschriftsteller" wurde.

Es gibt zwar viele, die Carver immer noch mit einem Ski verwechseln, doch die Zeiten ändern sich. Spätestens seit der Berlin Verlag im Jahr 2000 mit einer Neuedition seiner Werke begann und damit Raymond Carvers Shortstorys auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich machte, verlor der Schriftsteller aus Oregon auch hierzulande seinen Geheimtipp-Status.

In den USA gilt der 1988 im Alter von 50 Jahren gestorbene literarische Minimalist längst als Klassiker im Kurzgeschichten-Genre. Als einer, der in aller Kürze vielfältig schreiben konnte wie kein anderer. Als Mitte der 1970er Jahre sein erster Erzählband mit dem merkwürdigen Titel "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" erschien, wurde Carver in den USA quasi über Nacht berühmt. Mit Geschichten von eigenbrötlerischen Einzelgängern; von Trinkern, die nicht von der Flasche loskommen, und von Ehepaaren, die es nicht schaffen, sich zu trennen. Keine großen Themen, sondern Alltagsgeschichten aus dem Arbeitermilieu des Pacific Northwest - geschrieben freilich in einem knappen engen Stil, der bis dahin unbekannt war. "Carvers Geschichten sind wie das Leben", meinte der Schriftsteller Richard Ford einmal, "und doch sind sie überhaupt nicht wie das Leben". Sie sind etwas ganz und gar Gemachtes, Künstliches.

Texte in der Schwebe

Carver kam aus der amerikanischen Literatur-Workshop-Tradition und war es gewohnt, seine Texte mit anderen zu diskutieren, sie immer wieder abzuändern und neu zu schreiben. Jede einzelne seiner Geschichten hat er, eigenen Angaben zufolge, 15 bis 20 Mal modifiziert - von manchen Geschichten gibt es mehrere gedruckte Fassungen.

Das Resultat waren enorm durchtrainierte Texte, die wie beiläufig beginnen, vieles in der Schwebe lassen und dadurch eine erstaunliche Sogwirkung entfalten. Oft schien da etwas vom wirklichen Leben abgespiegelt, wofür es keine Worte gibt. "Der Versuch, zu erklären, was diese Geschichten erzählen wollen, hieße das auszusprechen, was sie verschweigen", resignierte die Autorin Judith Hermann in der deutschen Ausgabe von "Kathedrale".

Carvers Reduktionen ("Ich möchte die Sätze und Wörter bis auf die Knochen bloßlegen") wirkten Stil bildend. Eine ganze Autorengeneration wurde davon geprägt, und in den USA gibt es auch heute noch zahlreiche Schreibschulen, die seinen einsilbig-lakonischen Tonfall imitieren und Sätze schreiben wie:

Sie redete weiter, als hätte ich nichts gesagt. Vielleicht hatte ich nichts gesagt.

"Eine Zigarette mit einem Körper dran"

Raymond Carver wurde 1938 in Clatskanie in Oregon geboren. Als Sohn eines Sägewerkarbeiters. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, heiratete früh und wurde schließlich ein "praktizierender Alkoholiker" wie sein Vater, der - so die Legende - nach dem Konsum von einer Flasche Whisky im Bett verstarb.

Als ob Carver seine ersten literarischen Erfolge nicht verkraftet hätte, trank er am heftigsten, als er seinen Durchbruch als Schriftsteller erzielte. 1977 gaben ihm seine Ärzte noch sechs Monate zu leben. Wenig später hörte er mit dem Trinken auf - am 2. Juni 1977, wie Biografen präzise verzeichnen. Er legte sich andere Freunde zu, lernte eine andere Frau kennen, schrieb andere (optimistischere) Geschichten, und genoss sein "zweites Leben".

Zehn Jahre später jedoch erkrankte der Kettenraucher ("Ich bin eine Zigarette mit einem Körper dran") an Lungenkrebs und starb. Im August 1988. "Seid nicht traurig", steht auf seinem Grabstein, "mir wurden zehn Jahre meines Lebens geschenkt."

Biografie ohne Happy End

Die zwei Leben des Raymond Carver: hier der Alkoholiker, der ums Überleben kämpft, dort der Erfolgsschriftsteller, der den "Dämon Alkohol" besiegt hatte. Eine Schwarz-Weiß-Biografie ohne Happy End, die seine Fans fasziniert, als ob es eine von ihm selbst verfasste Geschichte sei.

Manche meinen ohnedies, dass Carvers Leben seine Literatur imitierte. So handelt, rätselhaft genug, die letzte Geschichte, die in Carvers letztem Buch erschien, von den letzten Tagen Tschechows. Carver bewunderte Tschechow, wurde oft selbst als "der amerikanische Tschechow" bezeichnet. Da war es nicht überraschend, dass er irgendwann auch eine Geschichte über seinen russischen Wahlverwandten schreiben wollte. Doch wenige Monate, nachdem er die Story über den an Tuberkulose erkrankten Tschechow verfasst hatte, spuckte auch Carver Blut. Als ob er sein eigenes Schicksal schreibend vorweggenommen hätte.

Interessant ist auch, dass den beiden Lebensabschnitten, den "guten" und den "bösen" Raymond-Zeiten, jeweils genau eine Frau entspricht: Maryann Carver und Tess Gallagher. Die eine hat er gleich nach der Highschool geheiratet, die andere lernte er kennen, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte. Die eine, Maryann, ist Lehrerin, die andere, Tess, eine erfolgreiche Dichterin. Ein Mann, zwei Frauen, zwei Leben.

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Perlentaucher - Raymond Carver