Maryann und Tess

Die zwei Frauen des Raymond Carver

Die zwei Frauen des Raymond Carver

Als ich im Frühjahr 2001 mit der Recherche für ein Porträt-Feature Raymond Carvers begann, war naheliegend, dass ich die beiden Frauen aus den beiden Leben des Raymond Carver treffen wollte. Doch beides schien unmöglich. Tess Gallagher, die Frau, die Carver sechs Wochen vor seinem Tod geheiratet hatte, möchte keine Interviews mehr geben, weil sie keine "tragische Heroine" sein möchte. Und Carvers erste Frau schien verschollen. Dass ich am Ende beide doch getroffen habe, war harte Arbeit. "Wie kommst du eigentlich an deine Gesprächspartner ran?" werde ich oft gefragt. Die Wahrheit ist so aufregend. dass das Interesse jener. die mich fragen, in der Regel bereits erloschen ist, bevor ich mit meiner Antwort fertig bin. Ein bisschen recherchieren, herumfragen, telefonieren, was man halt so macht.

In diesem Fall war die Sache jedoch verwickelt und kompliziert, denn Carvers Erben scheinen alle miteinander verfeindet zu sein und die Poetin Gallagher gilt als besonders streitbare und kämpferische Witwe. Eine, die auch Einfluss zu nehmen versucht auf die Art und Weise, wie Carver wahrgenommen und rezipiert wird. Und von deren Gunst die meisten Biografen und Herausgeber von Carver-Web-Seiten im Internet abhängig sind. Irgendwie schaffte ich es, ihre Mail-Adresse ausfindig zu machen. Wir korrespondierten wochenlang. Schließlich stimmte sie einem Gespräch zu. Allerdings erst, nachdem sie die Fragen, die ich ihr stellen wollte, sorgfältig geprüft und für "gut" befunden hatte.

Auf der Suche nach Maryann

Und Maryann, die Frau, die mit Carver 20 Jahre lang verheiratet war? Obwohl sie in allen Biografen erwähnt wird, scheint niemand zu wissen, oder wissen zu wollen, was aus ihr geworden ist und wo sie nun lebt.

Gallagher konnte ich nicht gut fragen, denn es ist bekannt, dass sie auf ihre Vorgängerin nicht gut zu sprechen ist. Würde sie in Erfahrung bringen, dass ich auch Carvers erste Frau treffen wollte, hätte sie, so jedenfalls meine Befürchtung, das bereits zugesagte Interview auf der Stelle abgesagt. Eine heikle Mission. Nach langem Suchen fand ich eine Carver-Website, die von einem Mann betrieben wird, der von Gallagher unabhängig zu sein schien. Phil Carson aus Boston. Der wusste aber auch nicht viel. Allerdings hatte er irgendwo gelesen, dass Maryann in einem Bauernhaus "sieben Meilen von Blaine entfernt" wohnen soll.

Die Polizei als Freund und Helfer
Das war zumindest eine erste Spur. Blaine ist eine Kleinstadt im Norden des Bundesstaates Washington, nahe der kanadischen Grenze. Aus dem Internet lade ich mir eine Landkarte herunter und ziehe einen Siebenmeilen-Radius um Blaine: leider Fehlanzeige, sieben Meilen rund um Blaine gab es keinen Ort und kein Nichts.

Zurück also zur Suchmaschine. Eingabe "Blaine" und "Maryann Carver". Nichts. Eher zufällig stoße ich schließlich auf die Internet-Seite der Polizei von Blaine. Ich schicke ihnen eine Mail. "Das klingt ja wie eine tolle Detektivgeschichte", schreibt der Polizeichef von Blaine, Michael Haslip auf meine Anfrage zurück. "Da wollen wir doch einmal ein bisschen nachforschen". Zwei Stunden später meldet der Polizist im Dienste der Literatur den erfolgreichen Abschluss der Operation. Und übermittelt mir die Telefonnummer von Maryann Carver-Burke. Es stellt sich heraus, dass Maryann inzwischen auf Lummi Island, einer kleinen Insel gut 30 Meilen von Blaine entfernt, wohnt.

"We had a lot of fun"

"Im ersten Schreck dachte ich, dass ich was verbrochen habe, als die Polizei anrief", lacht Maryann, eine Frau im weißen T-Shirt. Sie fährt einen Mercedes - wie der am Ende seines Lebens erstmals zu Geld gekommene Carver. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Foto, das ihr ihr Ex-Mann kurz vor seinem Tod geschickt hatte. Als ich es bemerke, sagt Maryann, plötzlich und etwas überraschend: "Wir haben uns bis zum Schluss geliebt". Immerhin hatte sie ihn Ende der 1970er Jahre verlassen. Natürlich hätte der Alkohol ihre Ehe ruiniert, aber so schlimm sei es nicht gewesen, "we had a lot of fun".

Von Tess Gallagher, der Frau in Carvers zweitem Leben, scheint sie nicht viel zu halten. Die hat er nur aus Dankbarkeit für ihre Pflege kurz vor seinem Tod geheiratet, sagt Maryann. Aber ich hatte, wie während des ganzen Gespräches, das Gefühl, dass sie sich was vormacht.

Witzig-intelligente Tess

Sie hat viele Feinde, und Eigensinn würden ihr nicht einmal ihre Freunde absprechen: Tess Gallagher, die Witwe, die wie ein Zerberus über Raymond Carvers Erbe wacht. Als ich sie in Port Angeles besuche (in dem Haus, in dem Carver seine letzten Lebensjahre verbrachte und in dem er starb), habe ich zunächst ein flaues Gefühl im Magen. Noch nie zuvor hatte ich meine Fragen vor einem Interview autorisieren lassen - und es war auch nicht sicher, ob ich mir alle gemerkt haben würde. "Ach, vergessen Sie die Fragen, die wir ausgemacht haben, fragen Sie, was Sie wollen", sagt Gallagher zur Begrüßung und entpuppt sich, ganz gegen alle Erwartungen, als charmante und witzig-intelligente Gesprächspartnerin. Sie trägt wallende Gewänder und dunklen Lippenstift. Wie Maryann fährt sie einen Mercedes - Carvers Mercedes. Und wie Maryann präsentiert sie stolz Widmungen von Carver und Fotos. Doch die Stimmung ist gelöst und unverkrampft, das "Interview" dauert einen ganzen Tag.

Dass man sie oft für einen Zerberus hält, stört die Witwe nicht. Ganz im Gegenteil, das halte die Leute auf Distanz. "Sie können sich ja nicht vorstellen, wie viele Leute ständig irgendwas zu Carver von mir wollen", sagt Gallagher und erzählt davon, wie sie den gerade von der Alkoholsucht befreiten Schriftsteller kennen lernte, wie sie ihm half, so was wie Normalität zurückzugewinnen, wie seine Familie ständig von ihm Geld wollte und dass zu seinem Grab hier in Port Angeles ständig ehemalige Alkoholiker pilgern und kleine Zettel hinterlassen mit den Worten "Danke, Ray". "Die Tatsache, dass es da jemanden gibt, der es wirklich geschafft hatte", sagt Gallagher, "ist für diese Leute enorm wichtig".

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Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 26. Juli 2008, 9:05 Uhr