Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein

Der Schuldkomplex

Ob es sich nun um Sklaverei, um koloniale Vergangenheit oder um den Faschismus handelt, in Europa sei das Sprechen über Schuld und Scham zum höchsten politischen und moralischen Gebot geworden - meint zumindest der französische Philosoph Pascal Bruckner.

Wieder und wieder grübelt der Westen über seine Schandtaten, die Kriege, die religiösen Verfolgungen, die Sklaverei, den Imperialismus, den Faschismus und den Kommunismus, seine lange Geschichte erscheint ihm als eine ununterbrochene Abfolge von Mord und Totschlag, mit den beiden Weltkriegen, also dem begeisterten kollektiven Selbstmord, als Höhepunkt und Abschluss.

So lautet die Ausgangsthese des vorliegenden Buches. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt Pascal Bruckner zufolge das Sprechen über Schuld und Scham als höchstes politisches und moralisches Gebot. Allzu oft erweist sich indes das geradezu lustvoll betriebene Erinnern als bloßes Lippenbekenntnis: Wir sind rundheraus stolz darauf, die Allerschlimmsten zu sein; doch hinter der scheinbaren Selbstverunglimpfung verbirgt sich eine ausgeprägte Selbstgefälligkeit, wie in diesem fulminanten Essay gezeigt wird. Wir leiden, gibt uns Bruckner zu verstehen, unter einem "Schuld-Komplex".

Kultivierter Opferstatus

Der französische Philosoph erachtet die Aufarbeitung des Dritten Reiches für gescheitert. Auschwitz sei ob einer zweifelhaften Sakralisierung zur "Zivilreligion des Westens", zum "Goldstandard des menschlichen Leids" geworden. Längst versuchten andere Opfergruppen davon zu profitieren. Bruckner sieht Europa wegen seiner schuldbeladenen Vergangenheit im Büßergewand dastehen, während alle möglichen ethnischen, sexuellen, religiösen und regionalen Minderheiten als von jeder Erbsünde befreit erscheinen und ihren Nutzen maximieren möchten. Heutzutage komme es auf den Opferstatus an, der gleichsam kultiviert werde.

Freilich gibt der Verfasser zu bedenken, dass sich der Opferstatus immer nur kurzfristig als vorteilhaft erweist, weil er letztlich auf eine neue Knechtschaft hinausläuft. Wiedergutmachung, ohnehin ein Euphemismus, stößt notwendigerweise an ihre Grenzen. Stattdessen, auch wenn das zunächst einmal unbefriedigend erscheint, plädiert Bruckner für das Bemühen um historische Wahrheit: Nichts darf verschwiegen oder verschleiert werden. Am Ende könnte sich daraus ein Neubeginn ergeben.

Der schönste Sieg über die Volksvernichter, Folterknechte und Sklavenhalter von einst ist das Zusammenleben von Völkern und Ethnien, die nach den einstigen Vorurteilen eigentlich verfeindet sein müssten, der Aufstieg der Unterdrückten zu gleichwertigen Mitbürgern und ihre Mitarbeit an unseren Zukunftsplänen.

Fähigkeit zur Selbstkritik

Der Westen war hier bereits erfolgreich. Unsere Verrohung ist längst der Mäßigung gewichen. Die Stärke Europas ist laut Bruckner, dass es seine Schwächen anerkennt, um etwas dagegen zu tun. Zu Recht wird die Fähigkeit zur Selbstkritik hervorgehoben. Das Bestreben, sich immer wieder um des Fortschritts und der Sache willen in Frage zu stellen, stehe beispielsweise dem Islam noch bevor.

Bruckner ergreift entschieden Partei für diesen Geist der Kritik, die westlichen Freiheitswerte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sowie die Trennung von Staat und Religion. Dem Multikulturalismus vermag der französische Philosoph wenig abzugewinnen. Hier würden Menschen nicht als Individuen, sondern ungefragt als Teil einer ethnischen Gruppe wahrgenommen. Ohnehin gehe mit ihm eine Relativierung westlicher Freiheitswerte einher. Aber die gelte es gerade zu schützen, und zwar mit Selbstbewusstsein.

Europa hat seine Ungeheuer weitgehend besiegt, die Sklaverei wurde abgeschafft, der Kolonialismus aufgegeben, der Faschismus überwunden und der Kommunismus auf die Knie gezwungen. Welcher andere Kontinent kann auf eine solche Bilanz verweisen? Am Ende hat also das Bessere über das Schlimme gesiegt. Europa ist die Schoah plus die Zerstörung des Nazismus, der Gulag plus der Fall der Mauer, das Kolonialreich plus die Entkolonialisierung, die Sklaverei plus ihre Abschaffung. Diese Gewaltsysteme wurden nicht nur beseitigt, sondern auch für unrechtmäßig erklärt. Dies ist ein Fortschritt der Kultur wie des Rechts.

Freiheit als Europas "köstlichstes Gut "

Gleichwohl ist Bruckner alles andere als zufrieden. Europa komme die tatsächliche oder vermeintliche historische Schuld mitunter sogar gelegen, um nur keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Die überlässt man lieber, der Parole "Nie wieder Krieg" folgend, den ungeliebten Amerikanern - wie im Übrigen auch die Verteidigung der Demokratie. Damit kann sich der Verantwortungsethiker Bruckner schwerlich einverstanden erklären. Und so resümiert er mit Blick auf die zukünftigen Erfordernisse:

Was ist wichtiger für uns, die dunklen Seiten unserer Geschichte oder die Lehren, die wir aus ihnen gezogen haben? Die lange Litanei der Massaker oder unsere Bemühungen, Knechtschaft und Ungleichheit zu entkommen? Bei der Beschäftigung mit unserem Erbe sollten wir uns eher für unsere Triumphe begeistern, als unsere Trauerfälle zu beklagen, denn der Triumph ist ja nichts anderes als der Trauerfall plus dessen Überwindung, die erduldeten und bezwungenen Leiden, die kollektive Anstrengung, dem Unglück die Stirn zu bieten. (...) Europa soll die Freiheit als sein köstlichstes Gut begreifen und sie bereits den Kindern in der Schule lehren. Kurz gesagt, sollte es den subversiven Ansatz seiner Ideen und die Vitalität seiner Grundprinzipien wiederentdecken.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Pascal Bruckner, "Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa", Pantheon Verlag

Link
Pantheon Verlag - Pascal Bruckner