Schuld und Nichtschuld

Die Winter im Süden

Norbert Gstreins neuer Roman ist ganz anders als seine vorherigen Texte. Mit diesem Buch hat Gstrein begonnen, in der Liga der wirkmächtigen Atmosphäriker zu spielen. Der Text fließt behäbig und dicht dahin, und dennoch weiß Gstrein zu faszinieren.

Woraus besteht ein Roman? Aus Stil, Handlung und Stimmung - das Unausgesprochene, die Atmosphäre, die auf ein dahinterstehendes Rätsel verweist. Kafka war der Großmeister des Atmosphärischen in der Literatur. Er konnte Worte so setzen, dass sie den Keller der Ängste öffnen, die Gefangenheit des Individuums fühlbar machen. Mit anderen Worten: die Tragik des Lebens, in deren Licht der moderne sportliche Machbarkeitswahn nur noch wie ein irrwitziges Ablenkungsmanöver aussieht.

Das alles sei vorausgeschickt, weil auch Norbert Gstrein begonnen hat, in der Liga der wirkmächtigen Atmosphäriker zu spielen. Gstreins neuer Roman ist anders als die vorangegangenen, bereits vielfach belobigten und mit Preisen versehenen. Das waren Romane, in denen der Autor das Leben aus großer Distanz und durch die Brille des zweifelnden Theoretikers sah.

"Das war sehr komfortabel, eine zweifelnde Hauptfigur zu haben, die alles in Frage stellt", so Gstrein im Gespräch. "Damit bin ich sehr weit gegangen. Und ich hatte den Eindruck, ich kann nicht noch weiter gehen, weil diese Skepsis am Ende heißen würde, man sagt überhaupt nichts mehr."

Aus dem Leben gefallen

"Die Winter im Süden", so der Titel des eben erschienenen Buchs, ist eine Geschichte, die in drei Ländern, auf zwei Kontinenten spielt und behäbig und dicht dahinfließt, als sei sie ein langer, mit einer cremigen Flüssigkeit angefüllter Fluss. Dieser Eindruck rührt von der Verfassung ihres Personals her: Menschen, die im übertragenen wie im konkreten Sinne exiliert, aus ihrem Leben gefallen sind. Sie verhalten sich wie im "Schwebezustand", schreibt Gstrein, haben ein "wattiertes, geradezu narkotisiertes Empfinden" für ihr Dasein.

Gstreins Roman nähert sich zwei Biografien gleichzeitig. Einmal der einer 50-Jährigen namens Marija und dann der eines 70-Jährigen, dem der Autor jeden Namen verweigert und der nur "Der Alte" heißt. Beide Stränge laufen aus zwei Kontinenten aufeinander zu, treffen sich beinahe in Zagreb, und laufen schließlich doch nur haarscharf aneinander vorbei.

Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien

Es ist das Jahr 1991 und die Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien beginnen. Marija flieht aus einer unglücklichen Ehe mit einem angesehenen Wiener Lokaljournalisten ausgerechnet nach Kroatien. Es ist ihre Heimat, die sie mit fünf Jahren während des Zweiten Weltkrieges verlassen musste. In Zagreb hat die 50-Jährige eine heftige und auch gewalttätige Affäre mit einem kriegsverletzten Soldaten, der ihr Sohn sein könnte, in dem sie aber Züge ihres lang verlorenen Vaters zu erkennen glaubt; eines Mannes, der im Zweiten Weltkrieg, das deutet Gstrein nur an, wahrscheinlich zu den faschistischen Ustascha gehörte, die mit den Nazis kollaborierten.

Was Marija nicht weiß: Dieser Mann lebt mit einer neuen Familie in Argentinien und auch er macht sich zu der Zeit auf den Weg in die Heimat. Seine Motive sind anderer Art als die Marijas: Er will 1991 an 1945 anknüpfen und die Schlachten von damals noch einmal schlagen – und dieses Mal auf der Seite der Sieger stehen. Er hat Sehnsucht nach den alten Kameraden; Sehnsucht nach Krieg. In seinem argentinischen Exil ist er Teil eines Netzwerks, das Geld für den neuen kroatischen Waffengang beschafft.

Krieg als Erlösung

"Der Alte" ist der soldatische Mann, wie er auch schon bei Klaus Theweleit beschrieben wird. Der Krieg ist für ihn eine notwendige Druckentlastung, ein Versprechen auf Erlösung von unerträglichen verbotenen Wünschen. Wünschen nach dem Weichen, Fließenden, Zarten - wie Theweleit es in seinem 1980 erschienenen Bestseller "Männerphantasien" formulierte.

Theweleits Klassiker gäbe überhaupt die passende Sekundärliteratur zum Roman Gstreins ab. Auch weil er die Psychologie eines Kriegers erklären kann, die sich aus Gstreins Roman nicht jedem unbedingt erschließt. Eines aber versteht jeder Leser sofort: Würde man dem Alten die Aussicht auf einen Krieg ein für alle Mal nehmen, bliebe nichts mehr übrig von ihm. Denn er ist nichts als eine harte Schale, unter der sich ein klägliches, weinerliches, verkümmertes - Theweleit würde sagen "nicht zuende geborenes" - Wesen versteckt. Das Soldatische ist es, was ihn zusammen hält.

Schicksalsergeben

Im Gegensatz dazu seine Tochter Marija, die zweite Hauptfigur des Buches: Sie ist die Schicksalsergebene, Widerstandslose, fast eine durchsichtige Zombie-Existenz. Im Kopf durchschaut sie die Menschen: ihren lieblosen Ehemann, einen linksliberalen Journalisten, auch die unmögliche Verbindung zu dem jungen Soldaten, ja sogar ihre eigene Lebens-Lähmung kommentiert sie im Buch eloquent. Aber im Umgang mit Anderen ist sie eine geduckte Seele. Sie ist gepeinigt von dem Gefühl, die mutmaßliche Schuld ihres Vaters abtragen zu müssen. Und bringt sich immer wieder in Situationen, wo sie das Opfer der Männer wird.

"Eine Frau, die Abbitte leistet für etwas, das sie gar nicht getan hat", so Gstrein dazu, "weil ein Begriff von Schuld macht in ihrem Fall keinen Sinn. Der Vater mag sich schuldig gemacht haben, das ist wahrscheinlich, im Zweiten Weltkrieg. Aber sie ist 1940 geboren und ist 1945 fünf Jahre alt und kann sich nicht schuldig gemacht haben." Gstrein interessierte daher: "Wie ist unser Verhältnis als sogenannte Nachgeborene zum Zweiten Weltkrieg? Wie ist unser Umgang damit? Jedenfalls kann es kein Schuldverhältnis sein."

"Auf zwei Seiten Krieg und dazwischen eine Frau"

Marijas Seelenhaushalt ist weniger vernünftig organisiert, als der gelernte Mathematiker Norbert Gstrein es hier fordert. Sie ist durch nichts mit dem Vater verbunden, außer durch seine Schuld, die er ignoriert und die sie für ihn abtragen will. Sie hängt an dieser Art der Verbindung. Vielleicht empfindet sie auch deshalb Schuld, weil sie ihn trotz alledem liebt, obwohl er sie verlassen hat, obwohl er ein Menschenschlächter ist. Der Roman scheint an dieser Stelle mehr zu wissen als sein Autor.

"Das hab' ich mir nicht vorher so zurecht gelegt", gesteht Gstrein ein. "Aber wenn ich jetzt das Motto sehe, ist eigentlich das Motto eine Darstellung davon: It's war, baby, it's war. Auf zwei Seiten Krieg und zwischendrin ist eine Frau. Der Krieg oder die Ausläufer dieses Krieges werden auch auf dem Körper dieser Frau ausgetragen."

Erstickender Kokon

Ohne zu wissen, wer er ist, begegnet Marjia in Zagreb einmal dem Wiener Ex-Polizisten Ludwig, dem Bodyguard ihres Vaters. "Sein Gesicht erinnerte sie an die Gesichter von Männern in Versandhauskatalogen", schreibt Gstrein ihr zu. "Männer, die ihre Markantheit zur Schau trugen und selbst auf den geruchlosen Seiten nach einem Einheitsrasierwasser rochen."

Ludwig, Marjias männliches Spiegelbild, fungiert in Gstreins Roman als eine Art Hilfs-Ich des Alten. Obwohl die männliche Hauptfigur dieses Romans, ist der Alte einfach zu irrwitzig und tumb, um uns über sich Auskunft geben zu können. Das erledigt an seiner Stelle Ludwig.

Wie Marjia bleibt Ludwig im Leben unter seinen Möglichkeiten. Ihn bedrückt aus anderen Gründen ebenfalls das Gefühl, schuldig geworden zu sein.

Aber gleichgültig ob tatsächlich oder nur gefühlt schuldig: Der Lebensweg jedweder Figur in Norbert Gstreins Roman "Die Winter im Süden" scheint früher oder später in eine Falle zu führen - ein Kokon, das erst so aussieht, als würde es vor der Wirklichkeit Schutz bietet und alsdann das Leben darin zu ersticken droht. Die Falle ist ein Gespinst des Verschwindens, der Auslöschung.

Das Leben ist größer

Der Leser spürt eine Kraft, die im Hintergrund des Romans am Werk ist; eine Kraft, die sanft, aber bestimmt und gegen die gelegentliche aufflackernde Lebenslust der Figuren hin zum endgültigen Scheitern führt.

Als sei ihm der Geist dieses Romans am Ende doch etwas unheimlich geworden, lässt Norbert Gstrein auf der vorletzten Seite den Satz fallen: "Man kann alles erzählen. Leben ist etwas anderes." Ist's Demut? Ist's vorsichtiges Relativieren? Ja, das Leben ist in jedem Fall größer als die Geschichten davon. Und sei es nur, weil es letztendlich unverständlich und unauflösbar ist. Gute Schriftsteller wie Norbert Gstrein wissen das.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 17. August 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Norbert Gstrein, "Die Winter im Süden", Hanser Verlag

Link
Hanser Verlag - Die Winter im Süden