Was wäre wenn

Die durchsichtigen Hände

Für seinen 2006 erschienenen Roman "Weiter" erhielt Xaver Bayer dieses Jahr den renommierten Hermann-Lenz-Preis. Auch die 22 Erzählungen, die jetzt in einem Band erschienenen sind, hätten genug Stoff für lange Prosatexte geliefert.

Er brauche dreierlei um zu schreiben sagte Xaver Bayer bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Hermann-Lenz-Preises: Auf ein Gefühl sei er angewiesen, er müsse die passende Form finden und benötige Ausdauer zur Ausführung. Alle drei Faktoren haben letztes Jahr in zwei intensiven Arbeitsphasen exakt 22 Mal zusammengewirkt. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Geschichten, die zum Teil auch genug Stoff für lange Prosatexte geliefert hätten.

Amoklauf eines Schriftstellers

Sich durch viele verschiedene, wenn auch ähnliche Welten zu bewegen, Szenarien, Standpunkte und Gefühlslagen unabhängig von einander zu untersuchen, war für Xaver Bayer noch spannender. Es macht keinen Unterschied, ob die Geschichten autobiografisch sind, aus seinen Träumen stammen oder erfundene Szenarien sind. Er testet unterschiedliche Blickwinkel und provoziert mitunter.

In der Erzählung "Engagierte Literatur" stellt sich der Erzähler die Frage, ob ein Amoklauf künstlerisch anzukündigen wäre, wie das wohl klingen und wer ihn anzeigen oder gar etwas unternehmen würde.

Was, wenn dieser Typ, der Autor, das dann aber wirklich tut? Aber wer von ihnen, ob Rezensent oder Leser, würde deshalb die Poliezi verständigen, und selbst wenn: Was könnte die Polizei unternehmen?

Diese Was-wäre-wenn-Frage beschäftigt nicht nur Xaver Bayers Protagonisten, sondern auch den Autor selbst. Gleichgültigkeit sei das Virus unserer Zeit und sie gelte es zu vermeiden, sagt der 31-Jährige in einem Interview.

In einer Reihe mit Kehlmann und Glavinic

Für seinen 2006 erschienenen Roman "Weiter" erhielt Xaver Bayer dieses Jahr den renommierten Hermann-Lenz-Preis. Die Jury war von der Darstellung der Welt eines computerspielenden Sonderlings, der immer mehr unter Realitätsverlust leidet, begeistert. Mit der Vergabe dieses Preises wird Bayer noch öfter in einem Atemzug mit den Größen des österreichischen Literaturbetriebs Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic genannt. Nicht, dass es nicht gerechtfertigt wäre, Xaver Bayer kann den beiden Herren durchaus das Wasser reichen, und doch steht er mit seiner zurückhaltenden Art etwas abseits, er hält sich noch von den großen Diskussionen über die Maschinerie "Literaturbetrieb" fern.

Es sind nicht die großartigen Wortschöpfungen und unerwarteten Wendungen, die ihn so lesenswert machen, es ist das Alltägliche, das Menschliche, das er sich so genau ansieht. In raschen Strichen skizziert er komplexe Gefühlswelten. Die Menschen in den 22 Geschichten halten als Projektionsfläche, als Identifikationsobjekte für die Leser her. Es sind Menschen, die sich Zeit nehmen, die Welt um sich herum zu untersuchen, zu beobachten, Menschen, die festhalten, was sie wahrnehmen, und sich mitunter auch in Fantasien und Tagträumereien verlieren oder vielleicht sogar vor der Realität fliehen. Es sind Menschen, die ihren Gefühlregungen nachgehen, ihnen auf der Spur sind und sich nicht beirren lassen.

Gefühle streicheln

Für Xaver Bayer sind Gefühle wie Tiere. Wie wilde Tiere, denn man darf sie nicht besitzen oder künstlich erzwingen wollen, sagt er in seiner Rede zur Verleihung des Hermann-Lenz-Preises:

"Man sollte ein Gefühl mit einer gewissen Demut umkreisen, es streicheln, ihm seine Besonderheit entlocken, man muss gut sein zum Gefühl, hin und wieder vielleicht fast auf hintertriebene Weise. Man muss wissen, wie man es bei sich behalten kann und wann man nachgeben muss, wenn es sich einem wieder versagt. Ist es verschwunden, bleibt eine Nachahnung, wie ein Duft, von dem man noch eine Weile zehren kann. Von diesem Augenblick an ist dann nur noch die Erinnerung an das Gefühl, auch eine Art von Konservierung der Essenzen, archiviert im Irgendwo des Bewusstseins, mitunter versunken für immer, mitunter sich nach Jahren zu Wort meldend, wenn man es längst vergessen hatte."

Heb endlich ab!

Wie sich Gefühle ihren Weg bahnen liest man in der Erzählung "Künstlerische Freiheit". Die Figur des Ich-Erzählers übernimmt auch hier das Zepter des Zeremonienmeisters, des egozentrierten Problemkindes. Thalia hebt das Telefon nicht ab, obwohl er schon Dutzende Male versucht hat sie anzurufen. Doch er gibt sich nicht geschlagen, es muss doch möglich sein, sie irgendwie dazu zu bringen, abzuheben. Nachdem er sich durchgerungen hat, ihre Nummer zu wählen, tun sich bei jedem Freizeichen Abgründe auf, er überlegt hin und her, was er nur sagen solle und durchlebt Qualen eines heftigen Liebeskummers.

Das Freizeichen tönte ein weiteres Mal und noch einmal und noch einmal, und ich rückte dabei weiter von mir selbst ab, wobei im Gegenzug die Hoffnung, dass ihre Stimme, ihr Hallo, meiner Seele ihren nötig gebrauchten Frieden schenken würde, sich in meiner Körpermitte hochpulsierte, bis es mir fast unmöglich schien, jemals wieder Herz und Hirn quasi auf eine Wellenlänge bringen zu können und zu mir zurückzufinden.

Die Protagonisten sind Menschen seiner Generation. In den Geschichten beschreibt er sein Umfeld, wie es sein könnte oder auch ist, seine Erlebnisse, die er tatsächlich erlebt oder aber nur erfunden hat. Es wirkt nicht gekünstelt, wenn er von einer Autofahrt über die Wiener Höhenstraße schreibt, um endlich mal reden zu können, und die Freude daran, dass ihm hier keine bunten Plakatwände voller Dummheit ins Gesicht lachen, denn die Höhenstraße sei dafür gemacht, dass man endlich einmal nur rede.

Oder wenn drei Freunde am Strand in Griechenland einen Durchhaltewettbewerb planen, wer sich am längsten draußen am Meer über Wasser halten kann. Seine Protagonisten nehmen Abschied, haben Liebeskummer, suchen ihre Katze oder räumen ihre Wohnung auf, um dann zum Schluss zu kommen, was zum vollkommenen Glück noch fehle, wären eine Frau und ein Kind in der sauberen Wohnung.

Zum Nachdenken anregen

Neugierig setzt man sich mit dem Ich-Erzähler auch in ein Taxi in Manhattan, in dem Henry Kissinger schon am Fenster gegenüber sitzt, und hört seinen Gedanken zu, die sich um die Frage drehen, warum Henry Kissinger denn nicht mit Chauffeur fahre.

Antworten hat Xaver Bayer keine in petto. Zumindest serviert er sie nicht am silbernen Tablett. Er will zum Nachdenken anregen und die Leser ermutigen weiterzugehen. Denn im Grunde beschreibt er nichts Besonderes, aber wer braucht schon rauchende Schlachtfelder, herzergreifende Liebesszenen und weltrettende Helden, wenn der Alltag das große Gefühlskino ist.

Xaver Bayer hat Zeit. Er nimmt sie sich und entspannt in seiner Art zu Schreiben. Der Alltag der Gefühle ist die Herausforderung und das größte Glück, sie wahrzunehmen: "Man darf also Gefühle nicht besitzen oder künstlich erzwingen wollen, sonst bleiben sie einem fern. So wie man nach vierblättrigem Klee nicht suchen darf. Man muss ihn finden. Und dann weiterschenken."

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Xaver Bayer, "Die durchsichtigen Hände. Erzählungen", Jung und Jung Verlag

Link
Jung und Jung Verlag - Xaver Bayer