Journalistische Stadterkundungen um 1900

In den "Schlammvierteln" der Großstädte

Die Schweizer Journalistin Else Spiller war eine der ersten Frauen, die um 1900 die Elendsquartiere der europäischen Metropolen erkundeten. Ihre unter dem Titel "Slums" veröffentlichten Eindrücke wurden nun neu aufgelegt.

Eine Reise nach Wien und der zufällige Anblick eines Krankenhauses, in das arme und verletzte Kinder gehen, wird für die Schweizer Journalistin Else Spiller im Jahr 1906 zum Schlüsselerlebnis. Aufgerüttelt von der Not hinter den Kulissen des mondänen Großstadtlebens beginnt die 25-Jährige, systematisch die Elendsquartiere von Amsterdam, London, Paris, Köln, Dresden, Berlin, Hamburg und Kopenhagen abzugehen. Die Berichte von diesen Exkursionen, die sie 1911 unter dem Titel "Slums" veröffentlicht, finden reißenden Absatz: Noch im selben Jahr wird "Slums" zum dritten Mal aufgelegt.

"Dass eine Frau derartige Berichte schreibt, ist als etwas Besonderes und Neues rezipiert worden", sagt der Historiker und Stadtforscher Peter Payer, der Spillers Buch im Czernin Verlag neu aufgelegt hat. "Neu war auch, dass sie als eine der ersten journalistischen Stadtforscherinnen und Stadtforscher nicht nur eine Stadt ins Visier nimmt, sondern einen Städtevergleich wagt."

Die Faszination der Elendsviertel

Slumreportagen erfreuten sich im deutschen Sprachraum ab den 1880er Jahren wachsender Beliebtheit. In Westeuropa, wo der Industrialisierungs- und Urbanisierungsschub bereits Jahrzehnte zuvor einsetzt, werden die Schattenseiten der prosperierenden Metropolen früher zum Thema. Beunruhigt hatte man festgestellt, dass Seuchen wie die große Choleraepidemie von 1830/31 ihren Ausgang in den Elendszonen genommen hatten. Das beeinflusste auch die Wahrnehmung der Menschen, die dort lebten: Sie wurden mit Schmutz, Krankheit und unmoralischem Lebenswandel assoziiert.

Der Hauch des Gefährlichen, Liederlichen und Verbotenen, der von den dunklen, engen Gassen ausging, war abschreckend und reizvoll zugleich. Ab den 1830er Jahren brachen daher nicht nur missionarisch und sozialreformerisch eingestellte Personenkreise in die Slums von London und Paris auf, sondern auch immer mehr Journalisten, Literaten und Zeichner, die sich dem "Anderen" in der eigenen Stadt wie einen fremden Kontinent näherten.

"Slumming" im Dienste der Heilsarmee

Ein wenig von der Lust am Abenteuer, am "Exotischen", das ein Ausflug in die Elendsviertel versprach, schimmert auch in Else Spillers Texten durch. Ihr eigentliches Motiv ist jedoch ein anderes: Sie will aufrütteln, die verheerende Lebens- und Wohnsituation in diesen Quartieren bekannt machen und zu Gegenmaßnahmen aufrufen.

Prägend für ihren Zugang wird ihr früher Kontakt mit der Heilsarmee, die unter dem bis heute gültigen Motto "Suppe, Seife, Seelenheil" in den Slums aktiv war. Beeindruckt von der "Schlammarbeit" der 1865 gegründeten Organisation veröffentlicht Spiller bereits 1909 das Buch "Was tut, was will die Heilsarmee". Mit "Slums" wird sie einmal mehr zur Botschafterin der Heilsarmee, denn die Route, die sie durch die Elendsviertel von London bis Kopenhagen wählt, ist durch die Stützpunkte vorgegeben, über die die Heilsarmee an diesen Orten verfügt: Nachtasyle, Arbeiterwerkstätten, Mädchenheime, Trinkerheilstätten und Asyle für entlassene Sträflinge.

Sauberkeit und Sittlichkeit als Weg aus dem Elend
Finstere, schmutzige Wohnungen, in denen die Menschen zusammengedrängt leben müssen - das ist für Spiller das Kernproblem aller Slums. Hier setzten, so Peter Payer, auch ihre simplen Lösungsvorschläge an: "Erst wenn die Wohnungen hell, freundlich und sauber seien, könne man auch auf eine moralische Verbesserung der Verhältnisse hoffen." Arbeit und Abstinenz sind für Spiller zusätzliche Faktoren, die den Weg aus dem Elend weisen.

Neue Erkenntnisse über die Lebensbedingungen des Industrieproletariats um 1900 darf man sich von "Slums" nicht erwarten, erklärt Rolf Lindner, Professor für europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin: "Zu sehr bleiben Spillers Schilderungen an Oberflächlichkeiten wie Schmutz und Unordnung hängen, zu wenig erfährt man über die Lebensweise einzelner Personen abseits ihrer Devianz von bürgerlichen Tugenden."

Die Rückkehr moralisierender Diskurse
Dennoch ist "Slums" ein aufschlussreiches Zeitdokument, das zeigt, wie man sich aus christlich-konservativer Perspektive dem Elend um 1900 annäherte. Und der moralisierende Unterton, der Spillers Schilderungen durchzieht, ist keineswegs Geschichte, wie die aktuelle "Unterschichtsdebatte" in Deutschland demonstriert.

Auch diese, so Rolf Lindner, setzt bei einer Kritik an der individuellen Lebensweise an: Die Angehörigen der "Unterschicht", so die gängigen Klischees, würden nichts für ihre Weiterbildung tun, schlechtes "Unterschichtenfernsehen" konsumieren und Fastfood essen, anstatt sich "vernünftig" zu ernähren. "All diese moralischen Argumentationen, die ein Stück weit der Vergangenheit angehörten, werden zurückgeholt und die individuelle Verantwortlichkeit betont, ohne dass die wieder fortschreitende Divergenz in Arme und Reiche, in klare Klassenverhältnisse tatsächlich thematisiert wird."

Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 2. September 2008, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Else Spiller, "Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte", hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Payer, Czernin Verlag

Rolf Lindner, "Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung", Campus

Rolf Lindner, Lutz Musner (Hrsg.), "Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der 'Armen' in Geschichte und Gegenwart", Rombach

Werner M. Schwarz, Magarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hrsg.), "Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. Katalog zur Ausstellung im Wien Museum Karlsplatz", Czernin Verlag

Links
Peter Payer
Humboldt-Universität Berlin - Rolf Lindner