Dem 20. Jahrhundert zuhören

The Rest is Noise

Alex Ross hat ein Buch über die Musik des 20. Jahrhunderts geschrieben, doch gleichzeitig ist es ein Buch über das 20. Jahrhundert. Am Mittwoch präsentiert der Autor sein Buch in der Wiener Stadtbücherei in deutscher Übersetzung.

Es ist ein Buch über die Musik des 20. Jahrhunderts, obwohl es eigentlich ein Buch über das 20. Jahrhundert anhand der in dieser Zeitspanne gespielten Musik ist - "Listening to the Twentieth Century" heißt es im Untertitel. Und diese Janusgesichtigkeit ist genau das Bemerkenswerte an dem Buch. Der Autor lässt all die oft detailgenau beschriebenen Werke und Klänge immer als mit sozialer Funktion ausgestattet erscheinen; Musik ist in diesem Buch immer Teil der jeweiligen Gesellschaft, selbstverständlich auch dort - oder gerade dort -, wo die Musik - oder die Komponisten - genau das vermeiden wollten.

Keine versteckten Vorlieben

Der Autor, renommierter New Yorker Musikkritiker, versteckt seine Vorlieben nicht. Die liegen bei jenen Komponisten, die mit der Grenze von Popularität - oder sagen wir gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit - einerseits und künstlerischem Anspruch andererseits so umgingen oder umgehen wollten, dass möglichst keines von beiden auf der Strecke bleibt. Das verleiht dem Buch einen für europäisches Musikdenken ungewohnten Zug, setzt aber grandiose Blickwinkel frei für eine Betrachtung des 20. Jahrhunderts mit all seinen Massenbewegungen, Diktaturen, Rückzugsorten, Wahrheitssuchen, Kommerzialisierungen und all den Musiken, die darin, dafür, dagegen, trotzdem und deswegen entstanden sind.

Das Beeindruckende an diesem Buch ist, dass es keine Rolle spielt, ob man die berichteten Anekdoten, Erzählungen und geschichtlichen Zusammenhänge nun kennt oder gerade kennenlernt, ob man die Werke, die mit Leidenschaft oft bis ins Detail beschrieben sind, nun im Ohr hat oder nicht: Dieser Zug ins Gesellschaftliche, das zwar manchmal oberflächlich Werdende, aber immer Erkenntnis Freisetzende dieser - im Wortsinn - Musikgeschichte macht dieses Buch so lesenswert.

Details zeigen Musikgeschichte in ungewohnten Farben

Von den chronologisch durchs 20. Jahrhundert geleitenden Kapiteln sind nicht alle gleich intensiv gelungen, und insbesondere nahe der Gegenwart, im ausgehenden Jahrhundert mit seiner pluralistischen Unübersichtlichkeit, verliert die Darstellung an Stringenz und Faszinationskraft.

Aber in den Abschnitten zur amerikanischen Selbstfindung zwischen Ives und Copland beispielsweise, oder manche Details zu europäischen Aufbrüchen der 1920er und 30er Jahre oder auch die Usurpation der Neuen Musik im Deutschland der Nachkriegszeit durch amerikanische Ideologie in Form von CIA-nahen Organisationen lassen die Musikgeschichte in ungewohnten Farben schillern.

Drei Abschnitte über die Jahrhundermitte

Die Mitte des Jahrhunderts wird in drei Abschnitten umschrieben, was faszinierend zu lesen ist. In "Todesfuge - Musik in Hitlers Deutschland" verfolgt der Autor unter anderem die unglückliche Rolle von Richard Strauss, der in seiner sozusagen naturpolternden und zwar nicht naiven aber doch irgendwie unpolitisch agierenden Art bekanntermaßen einerseits von 1933 bis 35 der Reichsmusikkammer vorstand und auch anschließend noch mit steinernem Pokerface gewisse Repräsentationsaufgaben übernahm, was ihn aber später nicht daran hinderte, mit dem Auto unangemeldet beim Konzentrationslager vorzufahren und, mit dem schlichten Hinweis darauf, dass er der berühmte Richard Strauss sei, die Entlassung jüdischer Internierter zu fordern.

Der Autor Alex Ross schafft es in den meisten Fällen, nicht bei solch anekdotisch Aufgezähltem stehenzubleiben, sondern die Musik und ihr Klangbild und ihre künstlerische Absicht damit in Verbindung zu setzen. Erstaunliches bringt diesbezüglich auch das zweite Kapitel zur Jahrhundertmitte zu Tage, ein Kapitel zur Musik, die den New Deal von Franklin Delano Roosevelt begleitete: Der Titel "Musik für Alle: Music in FDR's America" deutet eine heikle Ambivalenz auch in dieser Epoche schon an.

Einer der dramatischen Höhepunkte dieses Buches handelt von der Entstehung und frühen Aufführungsgeschichte von Schostakowitschs sogenannter Leningrader Symphonie (im dritten Jahrundertmittentext): "Die Kunst der Angst - Musik in Stalins Russland".

Atemberaubende Symphonie-Geschichte
Insbesondere an den Schicksalen von Dmitri Schostakowitsch und Sergej Prokofjew wird die Kunst der Angst überdeutlich spürbar, atemberaubend aber dann die Geschichte dieser Symphonie: Wie Schostakowitsch sie im belagerten Leningrad zu schreiben beginnt, wie er gegen seinen Willen evakuiert wird, wie die fertiggestellte Symphonie im März 1942 in der Sowjetunion uraufgeführt wird, wie anschließend Mikrofilme mit der Partitur in die USA geschmuggelt werden, und zwar wahrlich geographisch rund um den Großen Krieg, in Flugzeugen und Autos über Teheran, Kairo, Südamerika nach New York, wo Arturo Toscanini seine Konkurrenten Koussevitzki und Stokowski bei der Sicherung der amerikanischen Erstaufführung, die nicht zuletzt ein riesiges Radioereignis war, aussticht, wie aber zeitgleich in Leningrad alles daran gesetzt wird, diese Symphonie in der belagerten, beschossenen, ausgehungerten Stadt ebenfalls aufzuführen, wie während der Probenzeit drei Orchestermusiker tatsächlich verhungern, wie, um die Aufführung zu verhindern, die deutsche Armee einen Angriff zur Aufführungszeit plant, der aber von der russischen Armee mit einem Präventivschlag verhindert wird - Operation Sturmbö nannte der sowjetische General diesen Angriff zur Rettung einer Symphonie, und wie die Aufführung dann nicht nur stattfand, sondern via Lautsprecher ins Niemandsland Richtung der belagernden Armee ausgestrahlt wird, das alles ist atemberaubend.

Aber im Sinne von "nicht nur Geschichte, sondern Musikgeschichte" endet die Erzählung hier noch nicht: Der Autor erläutert genau, mit - unter anderem - welch absichtlicher Plakativität und Simplizität einerseits, mit welch hinterlistigem Hineinkomponieren von Musik, die Hitler bekanntermaßen mochte, andererseits, Schostakowitsch diese Symphonie mit erzählerischem Inhalt füllte, und wie sehr genau das wohl dazu geführt hat, dass die Crème de la Crème der in den USA an den Radiogeräten der Toscanini-Aufführung lauschenden exilierten Komponisten allesamt enttäuscht bis entsetzt reagierten, selbst jene, die sich ansonsten lobend und bewundernd über Schostakowitsch äußerten, also Schönberg, Strawinsky, Eisler, Rachmaninow, Hindemith, Bartók. Alle waren sie entsetzt über eine Trivialität, deren Verzweiflung, Sarkasmus und doppelten Boden sie nicht hören konnten.

Verbindung von Anekdotischem und Analysiertem

Nicht nur wegen der besonderen Dramatik rund um diese Leningrad-Symphonie zeigt sich hieran, wo die Qualitäten dieses Buches liegen, nämlich am in-Verbindung-Setzen von Musik, Gesellschaft, Anekdotischem, Analysiertem. Die Polarität zwischen "entertainment" und "artist" wird dabei natürlich öfters strapaziert und das kann schon ermüden, andererseits aber bearbeitet Alex Ross dann in etwas präziseren Gedankengängen diesen Gegensatz mit den Begriffen "music-hall" und "religion", und damit lässt sich tatsächlich viel erzählen über ein Musikjahrhundert im Prokrustesbett zwischen der alten quasi-religiösen Rolle von - wie es auf amerikanisch heißt - Austro-German Kunstmusik und Zirkus, Hollywood, Broadway, und Neo-Romantik.

Dem Einfluss, den diese Austro-German Tradition des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis hin zu Schönberg, Berg und Webern auf das ganze Jahrhundert hatte, geht Alex Ross immer wieder nach.

Beginn am 16. Mai 1906

Mit dem Kapitel "Strauss, Mahler und das Fin de Siècle" beginnt sein Buch, genauer am 16. Mai 1906 im Grazer Opernhaus: Gustav Mahler war an der Wiener Zensur gescheitert, die "Salome" von Richard Strauss, inzwischen mit riesigem Erfolg in Dresden uraufgeführt, an die Wiener Oper zu bringen, und so fand diese Erstaufführung in Graz statt. Es sollte ein denkwürdiger Abend werden, in mehrerlei Hinsicht: Giacomo Puccini kam über die Alpen, um sich über den Stand der modernistischen Dinge zu informieren, die Familie Mahler war natürlich da, inklusive Tochter, Alexander Zemlinsky kam mit Arnold Schönberg, dieser mit sechs seiner Schüler, unter anderem Alban Berg. Und das "alte Wien", wenn man das so sagen will, wurde unter anderem von der Witwe von Johann Strauss Sohn vertreten. Und im Übrigen behauptete Hitler in späteren Jahrzehnten einmal, er sei damals auch in Graz in dieser Aufführung gewesen, aber das lässt sich weder veri- noch falsifizieren.

Der Autor Alex Ross umkreist schon in diesem langen Einleitungskapitel genussvoll das Leitmotiv seines Buches, die prekäre Stellung des Komponisten im 20. Jahrhundert zwischen Einflussnahme und Bedeutungslosigkeit:

Im Zug zurück nach Wien gab Gustav Mahler seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass dieses gewagte Stück dem Publikum so unmittelbar gefallen habe. Genie und Popularität, so dachte Mahler offenbar, wären nicht kompatibel. Im selben Abteil saß der steirische Dichter Peter Rosegger. Wenn man Alma Mahlers Erzählungen glauben darf, antwortete dieser auf Mahlers Erstaunen mit dem lateinischen "Vox populi, vox Dei" - die Stimme des Volkes sei die Stimme Gottes. Worauf Mahler zurückgefragt haben soll, ob Rosegger die Stimme des Volkes jetzt meine, oder über die Geschichte hin betrachtet. Nachdem er 'Salome' gesehen hatte, war sich Mahler nicht mehr so sicher, ob die Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei. Schönberg drehte schließlich die Formel phasenweise gänzlich um, implizierend, dass die Stimme des Volkes eher die Stimme des Teufels sei.

Wien um 1900

Diese Polarität - zeitgenössische Musik mit möglichst großer Verbreitung und Zustimmung einerseits, Musik für wissende Eliten andererseits - verfüge über einen nicht unwesentlichen Keim im Wien der Jahrhundertwende, postuliert Alex Ross:

Beide Seiten der Auseinandersetzung tragen eine gewisse Verantwortung für das unansehnliche Ergebnis: Das Wien des Fin-de-Siècle gab den Traum von einem "common ground" auf.

Man könnte natürlich einwenden, dass es auch hierzu lange Vorgeschichten gebe und dass dieser common ground schon zu Verdis und Wagners Zeiten längst illusorisch war, aber es handelt sich ja auch um ein Buch über das 20. Jahrhundert. Und deswegen soll hier eine letzte sozial-musikalische Grenzüberschreitung aus diesem Buch zitiert werden, eine zwischen den Kontinenten ebenso wie zwischen den Generationen und zwischen den Genres. Aus einem Abschnitt über Kurt Weill und seinen Einfluss auf die Musikgeschichte:

1962 trat Lotte Lenya im New Yorker Greenwich Village im Theater de Lys auf, die Revue hieß "Brecht on Brecht". Ein junger, in Minnesota geborener Singer-Songwriter kam in die Show und war elektrisiert von der Interpretation der "Piraten Jenny", einem Song, in dem eine Prostituierte sich die Rache an den sie ausbeutenden Männern imaginiert. "Wir, das Publikum", schrieb Bob Dylan später in seiner Autobiographie über diesen Abend, "waren die Männer aus dem Song, das war kein 'Protestlied', das war ein Song gänzlich ohne Gnade". Im Geist von Brecht und Weill gravierte Dylan dann Phrasen ins Bewusstsein des Publikums des späten 20. Jahrhunderts: "A hard rain's a-gonna fall" oder "The times they are a-changin'" - letzteres ist ein Zitat aus einem Brecht-Text für Hans Eisler. The spirit of Berlin played on.

Hör-Tipp
Zeit-Ton, Mittwoch, 23. September 2009, 23:03 Uhr

Buch-Tipp
Alex Ross, "The Rest is Noise - Listening to the Twentieth Century", Fourth Estate London

Alex Ross, "The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören", Piper

Veranstaltungs-Tipp
Buchpräsentation "The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören" mit Alex Ross, Mittwoch, 30. September 2009, 19:00 Uhr, Stadtbücherei Wien, Urban Loritz Platz

Link
The Rest is Noise