Manons Schwestern, Werthers Brüder
Massenets Frauenfiguren
Nur ab und zu kommen sie aus dem Opernführer ins Bühnenlicht, um sich dort neben den Massenet-Dauerbrennern zu behaupten: Manons Schwestern, Werthers Brüder aus selten gespielten Bühnenwerken von Jules Massenet.
8. April 2017, 21:58
Sumi Jo in Massenets "Don Cesare de Bazan"
Jules Massenet gilt als der "Frauenversteher" der romantischen französischen Oper. Wer wissen will, wie man klingt, wenn man selbst noch glaubt, demnächst ins Kloster zu gehen, es dann aber natürlich nicht tun wird, höre "La grande tante", ein Frühwerk von 1867, Massenets erste Opéra comique.
Die würdige Tante, die ein nach dem Tod seines Onkels eilends aus den Kolonien heimgekehrter junger Soldat daheim vorfindet, ist in Wahrheit eine 20-Jährige, die der Onkel noch am Krankenlager geheiratet hat! Zwei vom Schicksal zusammengepackte junge Leute: eine Konstellation mit Entwicklungsmöglichkeiten.
Unbeschriebenes Blatt "Ariane"
Am anderen Ende der Skala, 1906, steht in Massenets Werkverzeichnis Ausgefallenes wie die Grand opéra "Ariane", die trotz ausgiebiger "Massenet-Renaissance" von Joan Sutherland bis Renée Fleming bis heute ein total unbeschriebenes Blatt geblieben ist. Massenet vertont hier mit leichter Hand eine Geschichte, die von Claudio Monteverdi bis zu Richard Strauss zu den großen Mythen der Operngeschichte gehört.
Kann es ihm entgangen sein, dass das "Lamento d'Arianna" das einzig erhaltene Stück aus Monteverdis "Arianna" ist? Auch seine Ballettmusik in "Ariane" enthält ein "Lamento d'Ariane", in dem Solo-Cello und -Flöte, operettenhaft dahin schmelzend, stellvertretend für Ariadne singen.
Jules Massenet in Spanien ganz veristisch
Die Vorliebe für hingetupfte Instrumentalfarben, die Liebe zur unversehens aufblühenden kleinen Melodie ist Massenet die ganzen 40 Jahre von "La grande tante" bis "Ariane" geblieben. Und trotzdem: welche Vielfalt an Themen, Stilrichtungen, Lokalkolorit! Ganz auf der Verismo-Schiene ist Massenet in "La Navarraise" unterwegs. 50 Minuten, zwei Teile, ein Orchester-Intermezzo dazwischen, so als hätte Massenet sagen wollen: "Was Mascagni in 'Cavalleria rusticana' kann, kann ich doch längst!"
Eine Episode aus dem Carlistenkrieg im Spanien von 1874 dreht sich um "La Navarraise", das arme Mädchen aus Navarra. Anita wagt sich hinter die Front und ermordet den feindlichen Anführer. Den Lohn dafür will sie als Mitgift in die Ehe mit Araquil bringen. Der aber wittert Betrug und Untreue, folgt Anita auf unsicherem Pfad - und wird tödlich verwundet. Anitas Aufschluchzen kippt in irres Lachen, als sie sich über den Leichnam wirft.
Ein Stück, in dem es dampft
Apropos Spanien-Opern: Vom frühen "Don Cesar de Bazan" mit seinen "Sevillana"-Rhythmen bis zum für Schaljapin geschriebenen "Don Quichotte" von 1910, in dem zu flirrenden Klängen einer schwülen Sommernacht Dulcinée ihre Verführungskünste einsetzt, durchziehen sie Massenets Oeuvre.
Eine Initialzündung zur Neubewertung des bis dahin als lediglich "parfümiert" und salonhaft geltenden Massenet war 1976 in der New Yorker Carnegie Hall die Wiederaufführung von "Le Cid": Der sagenhafte Ritter, Eroberer, Liebhaber El Cid, seine Chimène, Knalleffekte, große Chorszenen - "Le Cid" ist ein Stück, in dem es dampft und das vor Musik richtig überquillt.
Eine neue "Traviata", eine neue "Norma"
Auch eine "Sapho"-Oper hat Massenet hinterlassen, die aber mit Griechenland - im Gegensatz zum gleichnamigen Werk von Charles Gounod - gar nichts zu tun hat. "Sapho" ist der Spitzname des von Hand zu Hand gereichten Künstlermodells Fanny Legrand. Ein junger Mensch vom Land verliebt sich im Paris der Gegenwart in die deutlich Ältere, erfährt, dass sie nicht "rein" ist, wie er dachte, stößt sie wieder von sich.
Worauf sie in die Provinz ausrückt, um ihn zurückzuverführen - wie Manon ihren Des Grieux im Kloster Saint Sulpice! Wenn Massenet in "Sapho" seine Version von "La Traviata" geschrieben hat, dann wäre "Roma", 1912 für Monte Carlo komponiert, seine "Norma", seine "Vestalin". Es geht um die Vestalin Fausta, die im antiken Rom ihr Keuschheitsgelübde gebrochen hat und nun zum Tode verurteilt ist, es geht um ihren Liebhaber Lentulus, der mit ihr fliehen will und kaum weiß wohin mit seiner Liebe, Ungeduld und Verzweiflung - darin Massenets Werther "brüderlich" verbunden.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 11. September 2008, 15:06 Uhr