Kleine Phänomenologie des kulturellen Niedergangs

Kulturpessimismus

Oswald Spengler hat den Untergang des Abendlandes prophezeit. Aber die Vorstellung, dass alles immer schlechter wird, ist universal und so alt wie die Menschheit. Dennoch hat sie im deutschen Kulturraum eine besondere Tradition. Und keinen guten Ruf.

Anfang der 1920er Jahre verkündete Oswald Spengler in "Der Untergang des Abendlandes" den Verfall der westeuropäischen Kultur. Über sein Kulturkonzept gab und gibt es heftige Debatten. Genialer Universalhistoriker oder wissenschaftlicher Dilettant, Prophet oder fragwürdiger Ideologe? An Spengler scheiden sich bis heute die Geister.

Der Apologet des Niedergangs

In seinem kulturphilosophischen Hauptwerk mit dem Untertitel "Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte" skizziert er ein Modell von räumlich und zeitlich voneinander abgegrenzten Kultureinheiten, die wie lebendige Organismen zwischen Geburt und Tod einen Reifungsprozess durchlaufen. Demnach geht jede Hochkultur zum Abschluss dieses Prozesses ins Stadium der Zivilisation über, in der die Technik beherrschend wirkt und kulturelle Leistungen nicht mehr möglich sind, so zum Beispiel in der Spätantike. Die Kultur des Abendlandes vollzieht diesen Übergang seit dem 19. Jahrhundert, indem sie sich vollständig von der Natur emanzipiert. Damit wird der Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung, der Maschine.

Reflex mit langer Tradition

Die Skepsis gegenüber der Zukunft und die Überzeugung, dass es früher besser war, ist so alt wie die Menschheit, das erzählt der Mythos sowohl in der Bibel mit der Vertreibung aus dem Paradies als auch in der heidnischen Antike mit der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter.

Die Skepsis gegenüber der Zukunft des Abendlandes beginnt eigentlich mit Rousseaus Parole "Zurück zur Natur" als Antwort auf die Aufklärung. Im 19. Jahrhundert waren es dann Nietzsche und Dostojewskij, die die Zukunft des Westens mit tiefem Pessimismus beurteilten und eine radikale Neudeutung des Menschen vornahmen.

Ein deutsches Phänomen?

Zwar ist der Kulturpessimismus kein deutsches Phänomen, aber im deutschsprachigen Raum hat er eine besondere Tradition. Die pessimistische Philosophie Arthur Schopenhauers, an die sich der junge Nietzsche zunächst anschloss und die Richard Wagner als Untergangsmystik musikalisch umsetzte, prägten das bürgerliche Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts. Dieser Pessimismus ist eine Reaktion auf eine weiter zurückliegende positive Aufbruchsstimmung, die über Hegels zukunftsorientierte Dialektik in den Marxismus auch einen anderen Weg genommen hat.

Autoren der "Konservativen Revolution" wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck, der 1923 "Das Dritte Reich" veröffentlichte - ein Begriff, der später von der NSDAP gebraucht wurde -, sorgten dafür, dass der deutsche Kulturpessimismus endgültig in Verruf geriet.

Kulturpessimismus von links

Dennoch ist Kulturpessimismus nicht unbedingt konservativ bis reaktionär. Auch linken Intellektuellen sind kulturpessimistische Motive nicht fremd. Etwa Theodor W. Adorno, der sich in der "Dialektik der Aufklärung", den "Minima moralia" oder der "Theorie der Halbbildung" kulturkritisch mit Kapitalismus, Massenkultur und Kulturindustrie befasste.

Oder Günther Anders, der in seinem philosophischen Hauptwerk "Die Antiquiertheit des Menschen" eine radikale Technik- und Zivilisationskritik des Atom- und Medienzeitalters entwickelte und davor warnte, dass die technische Intelligenz von Produkten die Intelligenz ihrer Erzeuger übersteigen könne und womöglich dazu führen werde, dass die Welt der Dinge ihre Erfinder manipuliert. Er leitete daraus immerhin eine konkrete Aufgabe für die Philosophie ab: Die Veränderung der Welt zu interpretieren, um die Welt zu verändern, "... damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns".

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 22. August 2009, 17:05 Uhr

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Buch-Tipps
Oswald Spengler, "Der Untergang des Abendlandes", Patmos

Günther Anders, "Die Antiquiertheit des Menschen", C. H. Beck