Leben in Stalins Russland
Die Flüsterer
Glanz und Elend des Lebens in Stalins Russland zeigt Orlando Figes in dieser eintausend Seiten langen Studie. Figes verbindet dabei kenntnisreich Einzelfälle und allgemeine Struktur und stößt den Leser mitunter in ein drastisches Wechselbad der Gefühle.
8. April 2017, 21:58
Jelisaweta Drabkina erkannte ihren Vater nicht wieder, als sie im Oktober 1917 im Smolny-Institut, dem bolschewistischen Hauptquartier, mit ihm zusammentraf. Sie hatte ihn zum letzten Mal im Alter von nur fünf Jahren gesehen, bevor er im revolutionären Untergrund verschwunden war.
Der romanesque Anfangssatz von Orlando Figes "Die Flüsterer" enthält in nuce alles, was Glanz und Elend dieser eintausend Seiten langen Studie über das Leben in Stalins Russland ausmacht. Das Buch ist auf weiten Strecken zügig und klar geschrieben, es verbindet kenntnisreich Einzelfall und allgemeine Struktur, Figes kontextualisiert mustergültig - würde man heute sagen. Irgendwann geht man als Leser in der Flut der Beispiele aus dem Schreckensszenario des Stalinismus aber unter.
"Die Flüsterer" stellt einen monumentalen Anspruch: eine Sowjetgeschichte aus tendenziell unendlich vielen Perspektiven darzustellen: von unten, von oben, aus der Sicht der Täter, vor allem aus jener der Opfer - für die ganze Stalinzeit sind das - vorsichtig geschätzt - 25 Millionen; eingenommen wird auch der Blickwinkel der Mitläufer, und schließlich jener, die ihre Rolle "wechseln", und Täter wie Opfer zugleich sind.
Figes definiert sein Forschungsziel folgendermaßen:
Nicht wenige Bücher beschreiben die äußeren Umstände des Terrors - die Verhaftungen und Prozesse, die Versklavung und die Morde im Gulag – in diesem Buch wird der Einfluss des Terros auf das- Privat- und Familienleben zum ersten Mal tief lotend untersucht.
Hunderte Interviews mit Überlebenden
Das ganze Unternehmen ist wahrlich "generalstabsmäßig". Finanziert aus zwei großen britischen Forschungsstipendien wurden Dutzende russische Mitarbeiter ausgeschickt, um Hunderte Interviews mit Menschen, die den Stalinismus er- und überlebt hatten, zu machen. Inhaltlicher Ausgangspunkt und Akzent des "Oral history"-Projekts ist folgende Überlegung:
Die moralische Sprache der Familie ist das Hauptthema dieses Buches, in dem untersucht wird, wie Familien auf die Zwänge des Sowjetregimes reagierten. (...) Was dachten die Menschen, wenn ein Ehemann oder eine Ehefrau, ein Vater oder eine Mutter plötzlich als "Volksfeinde" verhaftet wurden?
Das Buch kreist um acht oder neun derartige Familien – Figes weist selbst darauf hin, dass es für den Leser mitunter schwierig sein könnte, den jeweiligen Faden auf den tausend Seiten nicht zu verlieren.
Genosse Vater
Die eingangs erwähnte Jelisaweta Drabkina gehört noch nicht ganz der Generation der "Kinder von 1917" an - der sogenannten "Oktjabrata" -, aber sie hält sich an deren Verhaltenskodex: Als sie ihrem Vater erstmals gegenübertritt, gibt sie sich keinerlei familiären "Sentimentalitäten" hin. Sie spricht ihn mit "Genosse" an, er antwortet: "Genossin?".
Ähnlich verhält es sich in der Kindheitsbiografie von Jelena Bonner, der späteren Sacharow-Witwe. In der Anfangsphase der neuen Sowjetmacht bekommen Kinder Namen wie "Wladlen" - abgeleitet von Wladimir Lenin, oder "Ninel" - Lenin umgekehrt gelesen; der bizarrste Name für den neuen, sozialistischen Menschen ist wohl "Melor" - Abreviatur von Marx, Engels, Lenin und Oktoberrevolution.
Schillernde Figur Konstantin Simonow
Im Zentrum des Stimmengewirrs über kommunistischen Adel und Askese steht die schillernde Figur des späteren Schriftstellers und Stalin-"Lieblings" Konstantin Simonow. Ein wenig zu symbolträchtig wälzt Orlando Figes den (wohl eher zufälligen) Umstand aus, dass Simonow, Spross der russischen Aristokratie der Obolenskijs, die Tochter einer jüdischen Familie heiraten wird.
Die Laskins waren aus dem sogenannten "jüdischen Ansiedlungsrayon" in die Hauptstadt gezogen und haben sich zum Internationalismus "emanzipiert". Opfer des Stalinismus wird es in beiden Familien geben - das während der sogenannten NEP-Zeit aufgebaute Fischgeschäft von Vater Laskin wird im Zug der Kollektivierung enteignet, Simonows Verwandte werden teilweise verbannt.
Kollektivierung der Landwirtschaft
Der erste große "Durchbruch" auf dem Weg zur Sowjetgesellschaft ist die Kollektivierung der Landwirtschaft: Allein im Jahre 1930 werden 60 Millionen Bauern in das neue Kolchossystem gezwungen. Die Bauern sind die "natürlichen Feinde" des Sozialismus - 10 Millionen sogenannter "Kulaken" werden von ihren Höfen vertrieben: Wo sich Widerstand regt, wird ein Mythos geschaffen wie jener von Pawlik Morosow: Der Kulakensohn, der seinen Vater an die neuen Machthaber verraten hatte, wurde von Kulaken ermordet. Jetzt propagiert man ihn als Märtyrer des Sozialismus.
Der junge Konstantin Simonow wählt einen sympathischeren Weg: Als Dreher und Werksstudent wird er in Samara seine Familie ernähren. Ein weiteres Beispiel für Jugend im Stalinismus ist der Arbeiter Stepan Podlubny, Verfasser eine Tagebuchs über Moskau zur Zeit der Modernisierung Moskaus - man könnte auch Magnitogorsk oder Norilsk nennen. Er ist zu Beginn der 1930er "schwindlig vor Erfolg": Mit diesem Ausdruck charakterisierte Stalin die Vorgänge bei der Industrialisierung des Landes.
Die Aufbauarbeit wird unter tatkräftiger "Mitwirkung" von Zwangsarbeitern, umzuerziehenden "Volksfeinden" und "freiwilligen" Komsomolzen verrichtet. Figes findet für jede Gruppe eine Stimme.
Zeugnisse von Schriftstellern
Es ist zwar kein Manko des Buches, aber dennoch bezeichnend, dass an entscheidenden Stellen immer wieder Zeugnisse von Schriftstellern als Beweismittel herangezogen werden: Lew Kopelews Memoiren, wenn es um die Vernichtung der Bauern geht; Boris Pasternak, den Vertreter der "alten" Intelligenzija, erleben wir als glühenden Stalinisten. In einem Brief an seine Cousin Olga Frejdenberg aus dem Jahr 1935 heißt es:
Übrigens - trotz allem bin ich - je länger, desto mehr - voll des Glaubens an das, was bei uns geschieht. Vieles befremdet, weil es ungeschlacht ist, aber dann staunt man immer wieder. Immerhin (...) hat man noch nie so weit und mit so viel Würde in die Zukunft geblickt, und das aus derart echten, unkonventionellen Beweggründen.
Größer ist die intellektuelle Niedertracht nur im Fall von Maxim Gorkij, der mit einer ganzen Schriftstellerbrigade den Bau des Belomorkanals besingt: Sklavenarbeit als mustergültige Form der Umerziehung. Der mittlerweile Gedichte schreibende Konstantin Simonow steht mit seinem Poem über den Weißmeerkanal in nichts nach.
"Sympathischer" ist das Beispiel des Juristen Slawin, der als Beamter des Innenministeriums eine "sachliche" Rechtfertigung des absurden Kanalprojekts schreiben soll, an seiner Aufgabe aus moralischen Gründen zerbricht und hingerichtet wird.
Ohne alle Selbstgerechtigkeit stößt Orlando Figes den Leser in ein drastisches Wechselbad der Gefühle und fordert die Urteilskraft heraus.
Mehr zum Buch in oe1.ORF.at
Recherchematrial im Internet
Mit "Die Flüsterer" hat Figes ein Buch vorgelegt, bei dem es einem die Rede verschlägt. An vielen Stellen könnte man kritische Einwände vorbringen - in die Nachtseite des sozialistischen Experiments ist bislang kaum jemand tiefer eingedrungen! Ein anderer Einwand gegen das Buch ist vielleicht gewichtiger: Viele der zitierten Quellen und Lebensdarstellungen - von Nadeschda Mandelstam über Lew Rasgon bis zu Lew Kopelew - gibt es längst als Buch, und zwar auch in Übersetzung. Und man muss sagen: Diese Darstellungen des Stalinismus sind authentischer! Epochemachend ist allerdings folgender Umstand: Orlando Figes hat sein ganzes historisches Ausgangsmaterial online gestellt.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Orland Figes, "Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland", aus dem Englischen übersetzt von Bernd Rullkötter, Berlin Verlag
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Berlin Verlag - Orlando Figes