Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung

Kultur der Kontrolle

Wir haben es heute mit einer neuen Form der sozialen Kontrolle und der Kriminalpolitik zu tun, ist der New Yorker Soziologe David Garland überzeugt. Wie es zu diesem Wandel in der Gesellschaft kam, das beschriebt er in seinem Buch.

Die Amerikaner haben ein unkompliziertes Verhältnis zum Umgang mit Verbrechern: Einfach einsperren und den Schlüssel wegwerfen, lautet die Devise. Daher sitzen auch nirgendwo anders so viele Menschen im Knast. Mit 2,3 Millionen Häftlingen haben die USA heuer wieder einmal ihren eigenen Rekord eingestellt. David Garland, ein britischer Kriminologe, der an der New York University unterrichtet, verfolgt diese Entwicklung schon seit den 1980er Jahren.

"Alle Kriminologen und alle politischen Kommentatoren, die ich kenne, haben immer geklagt, das Strafsystem werde immer repressiver", so Garland im Gespräch. "Als Grund führten sie einen politischen Rechtsruck an: Politiker wie Margaret Thatcher oder Ronald Reagan. Doch ich habe mir immer gedacht, dass eine so grundlegende Verschiebung nicht bloß dadurch zustande kommt, weil Politiker es sich wünschen."

In seinem Buch, "Kultur der Kontrolle" untersucht David Garland den Wandel in der Verbrechensbekämpfung am Beispiel von Großbritannien und den Vereinigten Staaten.

Steigende Kriminalität in den 1960ern

Die treibende Kraft hinter mehr Kontrolle, mehr Überwachung und mehr Härte in der Verbrechensbekämpfung seien die Bürger selber gewesen, erklärt David Garland. Diese Forderung war eine Reaktion auf einen drastischen Anstieg der Kriminalitätsrate in den 1960er und 1970er Jahren. Das Verhalten der Menschen begann sich daraufhin deutlich zu verändern. In den USA etwa seien Leute der Mittel- und Oberschicht aus den Städten in die Vororte abgewandert, erklärt Garland. "Sie verließen rassisch gemischte Viertel. "Die Überlegung war, dass Schwarze die Ursache des Kriminalitätsproblems sein könnten", führt Garland aus.

"Die Leute begannen außerdem, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Gegensprechanlagen wurden immer begehrter. Wohnungsinhaber fühlten sich in Häusern mit Portier sicherer. Die Leute veränderten ihre eigene; sowie die alltägliche Routine ihrer Kinder. Es hieß nun: Geh abends nicht durch den Park; mach auf dem Heimweg einen Bogen um diese Gegend."

Tagsüber fast leere Stadtteile

Den Anstieg der Kriminalität in der Nachkriegszeit führt der Autor auf ein Zusammenspiel von mehreren Entwicklungen zurück. In den 1950er und 1960er Jahren waren Konsumgüter erstmals auch für Durchschnittsverdiener erschwinglich. Die vielen neuen Autos, Radioapparate, Plattenspieler und Fernseher lockten Diebe und Einbrecher an.

David Garland führt noch einen weiteren Grund an: "In fast allen Ländern gingen die Frauen nun arbeiten. Ein Haushalt umfasste immer weniger Menschen. (...) Dadurch waren Häuser und Wohnungen tagsüber einbruchsgefährdeter als früher. Es gab niemanden mehr, der immer daheim war und ein Auge auf den Nachbarn warf. (...) Einbruch wurde also lohnender."

Konzentration auf die Opfer

Eine der Hauptursachen für mehr Kriminalität liegt jedoch schlicht in der Demografie: In den 1960er Jahren waren die sogenannten Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Teenageralter. Jugendliche sind von allen Altersgruppen am meisten gefährdet, sich mit dem Gesetz anzulegen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Babyboomer 20 Jahre später von ihren Politikern Schutz und hartes Durchgreifen verlangen. Gleichzeitig, so David Garland, rückte die Rolle des Opfers in den Vordergrund.

"Wenn Verbrechen überwiegend arme Leute beziehungsweise ganz selten die Wohlhabenden betrifft, dann kann man sich denken: Kriminalität ist entweder ein Armutsproblem oder ein ausgesprochenes Pech", meint Garland, "doch wenn die Mittel- und Oberschichten beginnen, ihr Leben um Verbrechensvermeidung zu organisieren und etwa in geschlossene Wohnanlagen ziehen, dann halten sich alle für potenzielle Opfer. (...) Dann entsteht der Eindruck, dass etwa Rehabilitation oder Rücksicht auf die Bedürfnisse von Tätern eine falsche Sichtweise ist. Das Justizwesen solle sich lieber auf das Opfer konzentrieren."

Wie sehr sich die Bedeutung des Opfers verändert hat, zeigt sich auch auf politischer Ebene, wie David Garland in "Kultur der Kontrolle" schreibt:

In den USA geben Politiker Pressekonferenzen, um eine Verschärfung der Strafgesetze zu verkünden, und mit ihnen auf dem Podium sitzt die Familie eines Verbrechensopfers. Gesetze werden für Opfer verabschiedet und explizit nach ihnen benannt: Megan's Law, Jenna's Law, the Brady Bill. In den USA sprechen Verbrechensopfer auf Parteitagen, und mit breiter Unterstützung aller Parteien wurde eine 'Opfercharta' verabschiedet.

Diese Charta hält die Rechte der Opfer im Justizsystem fest und informiert, wo sie sich gegebenenfalls beschweren können, sollten ihnen diese vorenthalten werden.

Mehr Kontrolle im Strafvollzug

Dieser Wandel geht Hand in Hand mit weniger Spielraum für die Täter. Der Gedanke, dass eine Schuld getilgt ist, wenn jemand seine Strafe abgesessen hat, ist aus der Mode gekommen. In den USA sind etwa Kinderschänder auch nach ihrer Entlassung Überwachung ausgesetzt.

"Jeder im Strafvollzug wird mehr kontrolliert und mehr eingeengt als je zuvor", meint Garland. "Häftlinge werden nicht mehr vorzeitig entlassen, wie es früher üblich war. Auf Bewährung Entlassene werden verstärkt überwacht. Allerdings nicht deshalb, um ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Man achtet drauf, dass sie sich nichts zuschulden kommen lassen."

Einen Trend zu mehr Strenge beobachtet David Garland in Ansätzen auch auf dem europäischen Kontinent. Der Unterschied zu Großbritannien und vor allem zu den USA bestehe darin, dass in anderen Ländern nach wie vor ein sozialer Kontrakt existiere. Im Rahmen dessen ist Platz für soziale Maßnahmen wie etwa Rehabilitation von Tätern.

Ausdehnung auf Terrorbekämpfung

Die hohen Kriminalitätsraten sind in den USA freilich längst zurückgegangen. Konservative werten dies als Beweis, dass mehr Kontrolle tatsächlich greift. Dem stimmt David Garland nur bedingt zu. Er meint, so wie die Demografie maßgeblich für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich war, ist sie es auch für deren Rückgang. Am Kontrollapparat zur Verbrechensbekämpfung wird jedoch nicht gerüttelt. Im Gegenteil. Seit dem 11. September 2001 wird er auch auf die Terrorbekämpfung ausgedehnt.

"Die meisten Strategien im Krieg gegen Terror haben Parallelen im Strafrechtssystem", so Garland. "Ich denke etwa an die Präventivmaßnahmen, wobei jeder nun mitverantwortlich nach Terroristen Ausschau halten oder melden soll, wenn er etwas Verdächtiges sieht. Ähnlich verhält es sich mit Barrieren und Kontrollen, sei es auf Flughäfen oder an den Grenzen oder einfach auf der Straße."

Änderungen erst in einer Generation

Hie und da ortet David Garland Signale für eine Abkehr von Bestrafung als Mittel der ersten Wahl. In einigen US-Staaten regen sich etwa Zweifel über die hohen Häftlingszahlen. Das liegt weniger an humanitären als an finanziellen Überlegungen. Gefängnisse mit voller medizinischer Versorgung sind teuer. Doch solche Überlegungen stehen noch am Anfang: "Es ist schwer vorstellbar, dass diese Strukturen in naher Zukunft abgebaut werden", meint Garland. "Die Organisation des Alltags hält üblicherweise eine Generation und nicht nur für die Dauer eines zweijährigen Wahlzyklus. Die schlimmsten und teuersten Maßnahmen werden verändert und aufgelöst werden. Die Todesstrafe wird nach und nach in Misskredit kommen. Es werden sich Zweifel an der Sinnhaftigkeit der vollen Gefängnisse regen, doch eine grundlegende Auflösung der Kultur der Kontrolle wird nicht in dieser Generation stattfinden."

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
David Garland, "Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart", aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn, Campus Verlag