Kärnten und die Flüchtlinge
Karntn is lei ans
Als "Wohlfühlparadies im Süden Österreichs" wird Kärnten in Werbebroschüren bezeichnet. Ein Paradies mag es für gut zahlende Gäste sein, wer aber als Flüchtling ins Land kommt, dem wird so wenig Gelegenheit wie möglich gegeben, sich wohl zu fühlen.
8. April 2017, 21:58
Ein "tschetschenenfreies Kärnten" hatte Landeshauptmann Jörg Haider erstmals im Sommer 2006 proklamiert. Der griffige Slogan war eine Reaktion auf eine Schlägerei im Villacher Fischlpark, für die tschetschenische Jugendliche verantwortlich gemacht wurden. In der Folge stellte sich heraus, dass in Wahrheit gewaltbereite Einheimische mit Baseballschlägern auf junge Asylwerber losgegangen waren. Die Anschuldigungen wurden fallen gelassen, der Slogan von den "gewaltbereiten Tschetschenen" blieb.
Nichts zu befürchten?
Als zu Neujahr 2008 wieder eine Massenprügelei in Villach Schlagzeilen machte, schritt der Landeshauptmann gleich zur Tat: Das Flüchtlingsreferat wurde eingeschaltet, suchte unter den Asylwerbern nach Verdächtigen. Ohne die Anschuldigungen zu überprüfen, leitete man amtlicherseits eine Abschiebeaktion in die Wege. Drei tschetschenische Flüchtlingsfamilien wurden herausgegriffen, die in Villach seit Jahren gut integriert gelebt hatten. Wie die Namen von Jugendlichen aus diesen Familien auf die Liste der Verdächtigen gelangten, wurde nie geklärt.
Telefonisch wurden die Vermieter der Flüchtlingsquartiere beauftragt, die Familien vom Abtransport am nächsten Morgen zu verständigen, sie anzuweisen, ihre Sachen zu packen und die Kinder nicht in die Schule zu schicken. Am Abend des 6. Jänner 2008 erhielten die Betroffenen diese Nachricht, verbrachten eine schlaflose Nacht, versuchten herauszufinden, was geschehen war. Am nächsten Morgen suchten sie Rat bei Freunden, zwei der Eltern erkundigten sich bei der Villacher Polizei, die ihnen versicherte, dass sie nichts zu befürchten hätten.
Alle Interventionen von Freunden, vom Therapeuten eines traumatisierten Asylwerbers, von Lehrern und Betreuern blieben ohne Ergebnis. Als um die Mittagszeit der Landeshauptmann eine Pressekonferenz veranstaltete, in der er gegen die "gewalttätigen Tschetschenen" wetterte, wurde endgültig klar, wen die Flüchtlingsreferenten gemeint hatten, als sie erklärten, die Weisung zu der Abschiebung komme von "ganz oben".
Verlorene Schulzeit
Ein Bus samt Streifenwagen wurde losgeschickt, die Familien unter großem Aufsehen aus ihren Wohnungen geholt. Wer sich auf die Auskunft der Villacher Polizei verlassen und seine Sachen nicht gepackt hatte, bekam eine halbe Stunde, um den in Jahren eingerichteten Haushalt aufzulösen. Was zurückblieb, ist für die Familien bis heute verloren.
Verloren ist unter anderem auch wertvolle Schulzeit. Die heute halbwüchsigen tschetschenischen Kinder hatten jahrelang in ihrer Heimat nur Flucht und Vertreibung kennen gelernt, auch in den Lagern gab es nur sporadisch Unterricht. Die Kinder kannten keine Sicherheit, keine regelmäßigen Tagesabläufe. Ihre Eltern hatten in den 1990er Jahren zwei Kriege überstanden, Entführungen, Folter und Verfolgung erlitten.
"Nie würde ich meine Kinder in diesen Fleischwolf zurückschicken" sagte eine der Mütter im Interview über die Aussichten auf Rückkehr nach Tschetschenien. In einem sichereren Land sollten die Jungen und Mädchen die Schule besuchen, sie wurden strikt zum Lernen angehalten. Mit Unterstützung von ehrenamtlichen Kärntner Lernhelfern erreichten auch die Schwächeren mit der Zeit positive Noten. Die jungen Burschen trainierten Boxen, gewannen erste Medaillen. Die traumatisierten Familienmitglieder erhielten eine kostenlose Therapie.
Keine Wiedergutmachung
Gerade, als alles gut zu werden schien, kam die Abschiebung. Die drei Elternpaare und ihre zwölf Kinder wurden zuerst nach Traiskirchen transportiert, wo sie vor Jahren in Österreich angekommen waren. Es dauerte Wochen, bis alle Familien in Quartieren untergebracht waren. Die Suche nach geeigneten Schulen musste von vorn beginnen, das Jahr war für alle verloren.
Der siebenjährige Salavat, das jüngste der Kinder, blättert im Quartier in Mürzsteg immer wieder in den Briefen und Zeichnungen, die ihm seine Klasse aus Villach geschickt hat. "Wann kommst Du zurück?", schreibt seine beste Freundin. Landeshauptmann Haider wurde inzwischen die Rechtswidrigkeit seiner Abschiebepraxis in einem Verfahren vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat bestätigt. Die Familien haben Recht bekommen, eine Wiedergutmachung gibt es nicht.
Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 9. Mai 2009, 9:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
TV-Tipp
TV-Gala zum Civis-Medienpreis, Samstag, 9. Mai 2009, 14:30 Uhr, 3sat
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