Kunstsinniges Toulouse
Michel Plasson und das Théâtre du Capitole
Eine Stadt mit Jahrhunderten Theater- und Opernvergangenheit, ein Dirigent, der bis heute in einem Atemzug mit dem Opernhaus genannt wird: Toulouse, das Orchestre du Capitole und Langzeit-Chef Michel Plasson haben Aufnahmegeschichte geschrieben.
8. April 2017, 21:58
Wer "Michel Plasson" sagt, denkt "L'Orchestre du Capitole de Toulouse" - und umgekehrt. Jahrzehntelang waren der Dirigent und sein Orchester eine Einheit, durch unzählige Opernabende, Konzerte, Schallplattenseiten, CD-Tracks. Ein riesenhafter Fundus an Aufnahmen vor allem französischer Musik unter Plassons Leitung ist so zusammengekommen: Gounod, Bizet, Massenet, Delibes, Offenbach, aber auch die entlegeneren Repertoirebereiche um Chabrier, Roussel, Satie, Milhaud hat der heute 75-jährige Michel Plasson vor Mikrophonen erforscht wie kein anderer Dirigent seiner Generation.
Nur: was hat "Capitole de Toulouse" genau zu bedeuten, dieser Begriff, der fast immer in einem Atemzug mit Plassons Namen genannt wird?
Oper in Toulouse im "Théâtre du Capitole"
Als "eine der ersten Opernbühnen" Frankreichs präsentiert sich das derzeit noch von Nicolas Joel, dem künftigen Pariser Opernchef geleitete Théâtre du Capitole in Toulouse 2008/9, mit einer Spielzeit, in der Pinchas Steinberg Enescus "Oedipe" dirigiert, Ricarda Merbeth die "Figaro"-Gräfin singt, Wagner-Tenor Robert Dean Smith als Andrea Chenier auftritt und in der mit Rameaus "Hippolyte et Aricie" unter Emmanuelle Haim auch die Barockoper ihren Platz hat.
Anna Caterina Antonacci kommt als Carmen, Camilla Nylund als Salome, und beim "Faust" von Gounod steht der Sohn von Michel Plasson, Emmanuel Plasson, am Dirigentenpult.
Die "Capitouls" und ihre Theaterbauten
Schon in den 1530er Jahren lässt sich nächst dem Amtssitz der "Capitouls" genannten Stadtverwalter von Toulouse ein Wirtshaussaal für Bühnenaufführungen nachweisen, die "Comédie". Ab 1671 spielt das Theater dort in Permanenz, gerät aber bald durch die neue "Académie Royale de Musique" nach Pariser Vorbild ins Abseits: Die vom König protegierten Sängerinnen und Sänger erweisen sich als sittsamer als die von den Kirchenkanzeln herab gescholtenen Komödianten.
1736 lassen die Capitouls anstelle der "Comédie" ein neues, barockes Theater errichten - vom gleichen Architekten, der 14 Jahre später auch das prächtige Rathaus entwirft. Kunstsinniges Toulouse: erst das Theater, dann das Amtsgebäude! Für knapp 700 Besucher gibt es ab sofort Lully, Charpentier, Gluck, am liebsten aber leichte opéra comique, in einem Gebäude mit modernster Bühnenmaschinerie und kontinuierlichem Spielbetrieb: Eine Chronik aus den 1780er Jahren verzeichnet pro Jahr 90 Opern am Spielplan des Théâtre du Capitole. Nach der Revolution "Théâtre de la République" genannt und bedrängt von einem Konkurrenzunternehmen, schlittert das Haus in eine Krise, verkommt, wird geschlossen.
Rossini-Taumel, "Wagnerisme", Star-Auftritte
Doch die Capitouls raffen sich ein drittes Mal auf: 1817, wiederum: Theaterneubau am gleichen Fleck, diesmal ein gewaltiges 2.000-Sitze-Haus, das Toulouse sofort zur Belcanto-Hochburg und Schauplatz für "Rossini-Taumel" werden lässt. Später halten Donizetti, Meyerbeer, Halévy Einzug, teils mit heute vergessenen Werktiteln. Es ist die Ära der Grand opéra, des Gaslichts, der Theaterbrände.
So groß ist die Angst vor einer Katastrophe, dass man das Théâtre du Capitole schließt und 1880 über den Grundmauern der Vorgängerbauten ein viertes neues Haus errichtet. Teils noch vor Paris hat dieses vierte Théâtre du Capitole Puccini- und Giordano-Novitäten erlebt, Wagner und die Proponenten des "Wagnerisme" werden zur Spielplan-Konstante.
Fünfter Neubau
1917: Feuer im Theater! Diesmal dauert es sechs Jahre, bis der fünfte und bis dato letzte Neubau steht und eine Zeit der großen Namen bei den Interpreten beginnt: Georges Thill, Ninon Vallin, Eide Noréna, Vanni Marcoux, Richard Tauber.
Das Orchestre du Théâtre du Capitole kennt seinen Wagner: Maestri wie Georges Sebastian, André Cluytens, Leopold Ludwig, Berislav Klobucar stehen dafür am Pult, Martha Mödl und Leonie Rysanek, Rita Gorr und Régine Crespin, Max Lorenz und Wolfgang Windgassen, Ferdinand Frantz und Hans Hotter auf der Bühne.
Die Ära von Michel Plasson
1967 wird der junge Michel Plasson Chef d'orchestre, wenig später auch künstlerischer Leiter des Théâtre du Capitole de Toulouse. Und wenn immer seit den 1970er Jahren Plattenaufnahmen geplant werden - speziell von französischen Opern der Romantik -, ist Toulouse als Aufnahmeort erste Wahl. Energie, Präzision, Feinsinn, Flair besitzen alle diese Einspielungen, die Welt auf den Kopf stellen sie nicht - so wie auch niemand je auf die Idee gekommen wäre, Michel Plasson, unter dessen Händen selbst die exzentrischsten Stars ganz diszipliniert sind, marktschreierisch zu "verkaufen".
Heute ist der "75er" Michel Plasson "frei", die Bindung an Toulouse Vergangenheit. Nachdem er ein paar Jahre die Dresdner Philharmonie geleitet hat, kann Plasson beobachten, wie sein Sohn Karriere macht, Emmanuel Plasson, ebenfalls am Dirigentenpult. Am Ende der Spielzeit 2008/9 wird der Junior dort anknüpfen, wo der Vater aufgehört hat: als musikalischer Leiter von Bizets "Carmen", am Théâtre du Capitole de Toulouse.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 2. Oktober 2008, 15:06 Uhr
Links
Théâtre du Capitole
Orchestre National du Capitole de Toulouse