Das größte Rätsel unserer Geschichte
Warum die Menschen sesshaft wurden
Ackerbau ist mühsamer als jagen und sammeln. Warum also wurden die Menschen sesshaft und begannen damit? Diese Frage ist für Josef H. Reichholf das größte Rätsel unserer Geschichte. In seinem Buch versucht er sich an einer Lösung.
8. April 2017, 21:58
Vor rund 10.000 Jahren ereignete sich Entscheidendes: Der Mensch änderte seine Lebensweise. Aus dem Jäger und Sammler wurde der Siedler und Ackerbauer. Das hatte Folgen, nicht nur für die Ernährung. Der Wechsel der Lebensweise markiert den Beginn der kulturellen Karriere des homo sapiens. Steigende Produktivität, Bevölkerungswachstum, neue Sozialsysteme waren die Folge, Dörfer, Städte, Staaten entstanden.
Die Kultur trat in Konkurrenz zur Natur, die Vorgeschichte mündete in die Geschichte. Man spricht von der so genannten Neolithischen Revolution. Doch was löste sie aus? Was bewog den Menschen, eine doch über rund 100.000 Jahre praktizierte und bewährte Existenzform aufzugeben zugunsten einer neuen, die nicht nur Vorteile versprach: Ackerbau ist mühsam, zeitintensiv und birgt das Risiko von Missernten. Der Mensch - so die landläufige Erklärung - war dazu gezwungen, weil infolge der Eiszeit das Wild knapp wurde. Aus der Not (des Viehmangels) wurde die Tugend (der Getreidenutzung). So war es. War es so?
Josef Reichholf hatte sich "in der Tat dreißig Jahre mit dieser Frage herumgeschlagen. Immer wieder, aus den unterschiedlichsten Erfahrungen heraus, kam dieses Problem hoch: Warum ist das so gekommen? Warum sind die Menschen nicht im früheren Zustand verblieben? Wo liegen die Vorteile?", fragt der Evolutionsbiologe, berühmt - und berüchtigt - dafür, in seinen Büchern - handeln sie nun von Klimawandel oder Artenvielfalt, von Katastrophenlust oder Siegeswillen, Stadtnatur oder Ökokolonialismus - strittige Thesen, originelle Perspektiven und fächerübergreifende Ansätze zu präsentieren. So auch in seinem jüngsten Buch.
Brot oder Bier?
Reichholf äußert Zweifel am gängigen Erklärungsmodell der Neolithischen Revolution. Warum wurde der Ackerbau nur in einigen wenigen, zudem sehr weit voneinander entfernten Gebieten "erfunden"? Warum nicht überall dort, wo Wild selten geworden war, stattdessen gerade da, wo es vorhanden blieb? Weshalb überdauerten Jäger- und Sammler-Kulturen bis in unsere Zeit nicht in den dafür günstigsten, sondern in den unwirtlichsten Gegenden?
Um das Rätsel des Ursprungs der landwirtschaftlichen Kulturen und des Sesshaftwerdens der Menschen lösen zu können, sollte man sich von der Vorstellung, Not und Mangel hätten dieses bewirkt, verabschieden, meint Reichholf, der dafür plädiert, den Blick von der Entwicklung der äußeren Natur auf die "physische Evolution des Menschen" zu richten - und sich eine ganz andere Frage stellt: "Kann am Anfang das Bier gestanden haben und nicht das Brot? Und ist erst aus der Fülle des Getreides, das man dazu anbaute, Bier zu erzeugen, die weitere Nutzung, als Funktionswandel, zum Brot hin zustande gekommen? Mit diesem Ansatz bin ich dann fündig geworden."
Vieles passte für ihn zusammen: "Die ersten historischen Darstellungen der Nutzung von Getreide sind Darstellungen, die Biertrinker oder die Zubereitung von Bierbrei zeigen. Und die indogermanische Wortwurzel von brauen ist brauda, und daraus entstand Brot - sehr viel später. Also ist die Möglichkeit nahe liegend gewesen, nicht in der Ernährung die Wurzel zu suchen, sondern im Genuss."
Genuss vor Nahrung
Der frühe Getreideanbau diente nicht der Ernährung, ist Reichholf überzeugt. Zu lange dauerte die Kultivierung des Wildgetreides, zu gering waren anfangs die Erträge und zu gering auch der Nährwert des Korns. Dagegen ist von Beginn an eine andere Nutzung des Getreides belegt, die dessen Vergärungsprodukt betrifft.
Reichholf verweist auf alte Darstellungen von Sumerern, die mit Röhrchen aus einem Krug trinken, und auf eine Stelle im Gilgamesch-Epos mit der Aufforderung "Trink Bier, wie's Brauch ist im Lande!" Mesopotamien sei damit gemeint, das erste großflächige Anbaugebiet von Getreide.
Affinität zu Drogen aller Art
Der Mensch, glaubt der Evolutionsbiologe, habe eine Affinität zum Rausch, und die ersten Räusche erlaubte man sich bei den frühesten Festen, rituellen Zusammenkünften von Nomaden. Um sich in einen entspannten oder euphorischen Zustand zu versetzen, um Geselligkeit zu fördern oder Menschen an einen bestimmten Ort zu binden, wurden - schon in der Steinzeit - Alkohol und Drogen konsumiert, gewonnen aus Pilzen und Beeren, Hopfen und Hanf, Betelnuss, Mohn und Koka, und natürlich das stimulierende und zugleich auch nahrhafte Bier.
Die Germanen kannten das Honigbier "Met", die Asiaten das Reisbier "Sake", die Mittelamerikaner das aus Mais mit Hilfe von Speichel hergestellte "Chicha" oder Spuckebier. Unter der Aufsicht von Schamanen, die die Feste leiteten und den Alkohol- und Drogenkonsum regulierten, sei alles, was in Rauschmittel umzuwandeln war, auch in diese umgewandelt worden, nicht zuletzt Getreide.
"Wir haben mit diesem Ansatz eine hinreichende Begründung dafür, dass am Anfang Stätten entstanden sind, die keine Städte waren, sondern Versammlungsorte, heilige Orte, die auf Zeit zunächst benutzt wurden und dann dauerhaft, wenn man in ihrer Umgebung Wildgräser vorfand", so Reichholf.
Verwechslung von Ursache und Folge
Was Josef Reichholf in seinem neuen Buch liefert, ist nichts weniger als eine komplett andere Antwort auf die Frage nach dem "warum" des Sesshaftwerdens und damit auch der Neolithischen Revolution. Die gängige Sichtweise, so der Autor, verwechsle Ursache und Folge und gehorche einer Darwin'schen Vorstellung von Evolution, die fälschlicherweise immer die Not, den Mangel, den Druck der Verhältnisse als Motor einer Entwicklung betrachte.
"Wir sehen aber eigentlich sowohl in der Paläontologie, als auch in der gelebten Wirklichkeit eher das Umgekehrte: weil sich etwas geändert hat, blüht das Leben geradezu auf", meint Reichholf. "Weil neue Möglichkeiten entstanden sind, die nutzbar waren, ist aus einer günstigen Situation heraus Neues zustande gekommen. Der Mangel schärft die Anpassung. Er liefert das Gekräusel an der Oberfläche, aber nicht die neuen Grundströmungen."
Eine Fülle von Ansatzpunkten
Josef Reichholf hat mit "Warum die Menschen sesshaft wurden" ein spannendes, leicht zu lesendes, im wahrsten Sinne des Wortes verblüffendes Buch vorgelegt, mit einer verblüffenden und - wenn auch nicht lückenlosen, so doch sehr weitreichenden - Indizienkette. Er kennt sich mit der Großtiervernichtung am Ende der Eiszeit genauso aus wie mit der Züchtung und Funktion von Haustieren bei Hirtennomaden, berichtet vom Einhorn und der Oryx-Antilope, erklärt eiszeitliche Höhlenmalereien und die Entstehung der Sprachen, erläutert das Erkennen der Farbe Rot und die halluzinogene Wirkung des Urins von Rentieren, die vorher Fliegenpilze fraßen, erörtert die Geografie von Rauschmitteln, die Bedeutung von Tongefäßen und die Ausgrabung von Göbekli Tepe, einem 12.000 Jahre alten Kultzentrum in Anatolien. Und all diese Spuren, Hinweise und Interpretationen fügen sich wie Mosaiksteinchenen in sein revolutionär anderes Bild von der Neolithischen Revolution.
Insofern sei er sehr gespannt auf die Reaktionen der unterschiedlichsten Fachbereiche, so Reichholf, "und ich hoffe - das war mein Ziel -, dass ich meine Details für die Gesamtthese so formuliert habe, dass sie im Prinzip widerlegbar oder durch neue Befunde weiter auszubauen sind. Das ist aus meiner Betrachtungsweise Naturwissenschaft."
Josef Reichholf hat "Das größte Rätsel unserer Geschichte" nicht lückenlos geklärt und ein für allemal gelöst. Immerhin aber er hat eine Fülle von Ansatzpunkten und Indizien für eine Neuinterpretation der Neolithischen Revolution geliefert, die man nicht wird ignorieren können - und die es geraten scheinen lassen, liebgewonnene Erklärungsmodelle gelegentlich zu hinterfragen - oder auch über Bord zu werfen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Josef H. Reichholf, "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte", S. Fischer Verlag
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S. Fischer - Josef H. Reichholf