Tanzmusik, Frecher Sound und Repolitisierung

Wie politisch ist der Jazz?

Jazz sei per se politische Musik, sagen die einen. Jazz werde als ideologische Projektionsfläche missbraucht, sagen die anderen. Zur Beurteilung der Frage bedarf es wohl der Differenzierung zwischen amerikanischer und nicht-amerikanischer Sichtweise.

"Jazz ist politische Musik. Von Anfang an. Von New Orleans an, von 1900 an - nicht weil die Musiker es so gewollt haben (...), sondern weil ihre Musik in eine Gesellschaft hineintönte, die sich instinktiv zu ihr in Widerspruch und Widerstand fühlte", so sprach der große deutsche Jazzpublizist Joachim-Ernst Berendt 1995 im Zuge seines letzten publizierten Vortrags über sein Lebensthema, den Jazz.

Berendt, dessen Vater im KZ Dachau starb, tätigte diese Aussage vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen, und aus seiner Perspektive hatte er damit wohl auch Recht. Nicht aber aus jener des Jazz an sich. Denn zur Beurteilung der Frage, wie politisch der Jazz - vor allem: aus sich selbst heraus - ist, bedarf es wohl der Differenzierung zwischen amerikanischer und nicht-amerikanischer Sichtweise jener Musik.

Tanz statt Protest: Jazz in den USA

In seinen Anfängen war Jazz mitnichten ein Medium gesellschaftlichen Protests. Jazz fungierte als Tanz- und Unterhaltungsmusik, die ganz im Dienste des Publikums stand, die im Swing der 30er-Jahre sogar zur populären Musikform ihrer Zeit avancierte. Auch im Bebop, der im Jazz den Schritt von der Tanz- zur reinen Konzertmusik markierte, änderte sich dies nicht: Charlie Parker träumte davon, dass seine Musik gesellschaftliche Anerkennung finde, nicht aber davon, mit der Musik die Gesellschaft zu verändern.

Billie Holidays Interpretation von "Strange Fruit", dem berühmten Song über die Lynchjustiz an Schwarzen, war in dieser Zeit - 1939 - eine singuläre Erscheinung. Erst in der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung ab Mitte der 50er-Jahre mehrten sich im Jazz gesellschaftspolitische Statements: Sonny Rollins' "Freedom Suite" (1958), Charles Mingus "Fables of Faubus" (1959) und andere standen am Anfang jener wilden 60er-Jahre, in denen auch in den USA - man denke etwa an Archie Shepp, das New York Art Quartet mit Amiri Baraka - die gesellschaftlichen Umbrüche im Free Jazz reflektiert und mitgetragen wurden.

Frühe Reibungsflächen: Jazz in Europa

Ganz anders war hingegen die Ausgangsposition in Europa: In der Alten Welt war der Jazz ein frischer Wind im alten Gemäuer, ein junger, frecher Sound, dessen Ästhetik den Wertvorstellungen abendländischer Hochkultur diametral entgegenstand. Genau deshalb wurde der Jazz einerseits als "Blutauffrischung" und Gegenentwurf zum weihevollen Ernst der klassischen Musik begrüßt, andrerseits aber naserümpfend abgelehnt, mitunter sogar bekämpft: als "jüdische Negermusik" im Dritten Reich, als Ausdruck des "amerikanischen Kulturimperialismus" im Stalinismus.

Die politische Rolle, sie wurde dieser Musik vor allem durch jene Repressionen aufgezwungen. Und der Jazz eignete sich durch seine individualistische Ästhetik (Improvisation, Tonbildung) hervorragend dafür, nonkonformistische Haltungen zu betonen. Kein Wunder auch, dass einige Jahre später, im europäischen Free Jazz, vor allem in Deutschland, wo man von "Zertrümmerungsästhetik" und "Kaputtspielphase" sprach, musikalische und gesellschaftliche Aufbruchsbewegungen noch viel stärker als in den USA zusammen schwangen.

Repolitisierung dank George W. Bush

Und seither? Ja, der Jazz ist ein alter Herr geworden, einer der - vor allem in Europa - im etablierten Kulturbetrieb angekommen ist. Rock, Punk und HipHop haben längst die Rolle des Protestmediums übernommen. Behält am Ende also doch Stanley Crouch, Vordenker der Neokonservativen und Wynton Marsalis', Recht, der die Idee von Jazz als "politischer Musik" für eine Erfindung weißer Kritiker hält, die den Ausbruch aus ihrem eigenen, bürgerlichen Milieu in jene Musik hineinprojizieren?

Dagegen spricht nicht zuletzt die aktuelle Repolitisierung des Jazz. Die Taten von George W. Bush findet sich indirekt oder direkt in Stücken oder Platten von Jon Hassell, Keith Jarrett, Dave Douglas, Carla Bley, Charlie Haden und vielen anderen reflektiert. Nein, der Jazz ist keine politische Musikform per se; aber eine, die ihre Aktualität, ihre Vieldeutigkeit noch immer aus dem Umstand bezieht, dass sie auch für politische Statements offen ist.

Hör-Tipp
Jazztime, Freitag, 10. Oktober 2008, 19:30 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Joachim-Ernst Berendt, "Wandel und Widerstand", In: Wolfram Knauer (Hg.): "Jazz in Deutschland. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung", Band 4. Hofheim: Wolke Verlag 1996; S. 261-279.

CD-Tipps
Sonny Rollins, "Freedom Suite" (1958)

Charles Mingus, "Ah Um" (1959)

Abbey Lincoln/Max Roach, "We Insist! Freedom Now Suite" (1960)

Archie Shepp, "Fire Music" (1965)

Peter Brötzmann, "Machine Gun" (1968)

Carla Bley, "Looking For America" (2003)

VA, "Respekt!" (2004)

Dave Douglas, "Strange Liberation" (2004)

Jon Hassell, "Maarifa Street" (2005)

Charlie Haden & Liberation Music Orchestra, "Not In Our Name" (2005)

World Saxophone Quartet, "Political Blues" (2006)