Gefährdete Vielfalt
Ein Land mit 100 Sprachen
Nach dem politischen Umbruch in Nepal setzen sich die ethnischen Minderheiten für ihre kulturellen und linguistischen Rechte ein, die lange negiert wurden. Noch werden in Nepal mehr als 100 Sprachen benutzt, manche aber nur von einigen hundert Personen.
8. April 2017, 21:58
"Wir sprechen von Adivasis oder Janajatis. Damit sind jene Bewohner von Nepal gemeint, die keine Hindus sind und ethnischen Minderheiten angehören. Insgesamt machen wir 38 Prozent der Bevölkerung aus, und wir haben mehr als hundert verschiedene Sprachen. Allein in meiner Gemeinschaft, bei den Rai, gibt es cirka 30 Sprachen", sagt Novel Kishore Rai, Professor am Institut für Linguistik der Tribhuvan-Universität in Kathmandu.
Unglaubliche Sprachvielfalt
Sprachwissenschaftler bestätigen: In Nepal, einem Land, das nicht ganz zwei Mal so groß ist wie Österreich, gibt es als mehr 100 Sprachen - und dazu noch unzählige Dialekte. Erklären lässt sich das aus der Geografie des Landes: In Gebirgsregionen wie im Himalaya findet man viele abgeschiedene Täler, die als Rückzugsgebiete dienen und wo sich Sprachen erhalten können.
Außerdem liegt Nepal an der Schnittstelle zwischen den beiden großen Kulturen Indiens und Chinas. Hier treffen die indoeuropäischen und sinotibetischen Sprachgruppen aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig. Die offizielle Staatssprache Nepali gehört zu den indoeuropäischen Sprachen.
Bisher wurde die Sprachenvielfalt unterdrückt
Die Sprachenvielfalt wurde in Nepal allerdings lange nicht geschätzt. Ganz im Gegenteil. Die Shah-Dynastie, die das Land, das bis dahin in diverse Fürstentümer und Stadtstaaten geteilt war, im 18. Jahrhundert einigte, strebte auch eine kulturelle Vereinheitlichung an. Später gab es dann den Slogan: Ein Land, ein König, eine Sprache, eine Kultur. "Fast 240 Jahre lang wurden wir kulturell, sprachlich, sozial und wirtschaftlich unterdrückt", sagt Novel Kishore Rai.
Der politische Umbruch im vergangenen Jahr hat den Minderheiten neue Hoffnung gegeben. Ende Dezember 2007 beschloss das Parlament mit einer mehr als zwei Drittel-Mehrheit die Abschaffung der Monarchie, für die die maoistischen Rebellen ein Jahrzehnt lang gekämpft hatten. Im Mai dieses Jahres wurde die Republik ausgerufen, in deren Kontext die Minderheiten nun für ihre linguistischen und kulturellen Rechte eintreten.
Viele Sprachen werden aussterben
Wie viele dieser Sprachen allerdings tatsächlich überleben werden, ist ungewiss. Manche könnten schon bald aussterben - so wie weltweit mehrere tausend Sprachen. Experten der UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zeichnen ein düsteres Szenario: Von den heute rund 6.500 weltweit verwendeten Sprachen könnten Ende dieses Jahrhunderts nur noch die Hälfte bis ein Drittel existieren.
Professor Martin Gaenszle, Professor am Südasieninstitut der Universität Wien arbeitet gemeinsam mit Kollegen von der Universität Leipzig und nepalesischen Wissenschaftlern an einem Projekt zur Dokumentation zweier bedrohter Sprachen in Nepal - des Chintang und Puma, die in Dörfern südlich der Mount Everest- Region gesprochen werden. Den Minderheiten ist vor allem der Erhalt ihrer Ritualsprachen wichtig, damit sie ihre Ahnen ehren und Unheil abwenden können.
Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 14. Oktober 2008, 19:05 Uhr
Übersicht
- Sprache