Swing aus Europa und Afrika

Wie afrikanisch ist der Jazz?

Es ist eine Binsenweisheit, das der Jazz aus der Verschmelzung von afrikanischen und europäischen Elementen in den USA entstanden ist. Umstritten ist aber, wie groß der afrikanische Einfluss tatsächlich ist, und wie sich dieser im Jazz manifestiert.

"Jazz ist schwarze Musik": das sagte der afroamerikanische Saxophonist Archie Shepp in den 60er Jahren, als in Zeiten der "Black Power"-Bewegung, in der Zeit von Martin Luther King und Malcolm X der Jazz von seinen (afroamerikanischen) Protagnisten mehr denn je als schwarzes Ausdrucksmittel verstanden wurde und eine nie wieder dagewesene gesellschaftlich-politische Dimension erlangte.

Aber kann man diesen Satz "Jazz ist schwarze Musik" wirklich so stehen lassen? Wie groß sind tatsächlich die "schwarzen" Wurzeln des Jazz und wie äußern sich diese? Und sind diese "schwarzen" Wurzeln tatsächlich afrikanisches Erbe oder sind die Ursprünge des Jazz ausschließlich auf dem Boden der heutigen USA zu suchen?

Was bleibt ohne afrikanische Elemente?

Afrika hat nichts mit der Jazzmusik Amerikas zu tun. Ohne Amerika gäbe es keine Jazzmusik. Diese Musik hat sich ausschließlich in der amerikanischen Gesellschaft entwickelt. Ich hatte afrikanische Schlagzeuger in meiner Band, sie haben Tourneen mit mir gemacht, aber ihre Musik hat nichts mit der Musik zu tun, die wir spielen.

Dieses Zitat stammt vom afroamerikanischen Drummer Art Blakey, der mehrere Jahre in Afrika zubrachte und mit seinen "Jazzmessengers" die Geschichte dieser Musik entscheidend mitgeprägt hat. Wenn man sich die Musik Blakeys anhört, würde man ihm dieses Zitat kaum zuschreiben, und es wurde von seinen Musikerkollegen auch kaum akzeptiert, vor allem nicht von den Afroamerikanern selbst. Der Jazz sei zwar eine amerikanische Kunstform, afrikanische Wurzeln seien aber für seine Entwicklung bestimmend, meint zum Beispiel der Pianist Randy Weston, der ebenfalls mehrere Jahre in Afrika gewesen ist. "Wenn du die afrikanischen Elemente aus unserer Musik entfernst, hast du absolut nichts".

Zweifel an ursprünglicher Theorie

Diesem letzten Satz von Randy Weston widerspricht der Musikforscher Maximilian Hendler vehement. Hendler hat in der Reihe "Beiträge zur Jazzforschung" der Musikuniversität Graz vor kurzem das Buch "Vorgeschichte des Jazz - vom Aufbruch der Portugiesen zu Jelly Roll Morton" veröffentlicht, in dem er die Theorie, der Jazz bestehe zum Teil aus afrikanischen Musiktraditionen, stark anzweifelt.

Ein Beispiel: in den 1950er - Jahren war in den Arbeiten des bekannten Afroamerikanisten Alfons Michael Dauer noch davon die Rede, die sogenannten "Blue Notes, also "dreckige", irgendwo zwischen großem und kleinem Intervall intonierte Terzen beziehungsweise Septimen, die wesentlich zur charakteristischen Klangfärbung des Blues beitragen, hätten ihren Ursprung in westafrikanischen Tonsprachen, die mit den Sklaven in die USA gelangt sind.

Weiterentwicklung epischer Gesänge
Hendler meint dazu, dass der Blues generell mitsamt seinen speziellen Ausformungen und Stilen eine Weiterentwicklung epischer Gesänge sei, Gesänge, wie es sie auf der ganzen Welt gibt - auch in Afrika, aber bei weitem nicht nur dort. Und das Prinzip von "Call & Response" (ein Vorsänger, ein Chor antwortet) gäbe es, so Hendler, ebenfalls auf der ganzen Welt, in schottischen Psalmengesängen (zum Beispiel auf den Hebriden) genauso wie in den Worksongs der Thunfischjäger Kalabriens.

"Call & Response" sei also bei weitem nichts rein Afrikanisches, wie es früher immer behauptet wurde, betont Maximilian Hendler in seinem erwähnten Buch. Und noch eine bis dato weit verbreitete Ansicht zieht Maximilian Hendler in Zweifel: nämlich dass die Rhythmik des Jazz zum überwiegenden Teil afrikanisch geprägt sei.

Die europäischen Wurzeln des Swing

Der deutsche Jazzpapst Joachim Ernst Berendt publizierte in den 1970er Jahren die Ansicht, die Jazzrhythmik habe sich aus der Überlagerung westafrikanischer Trommelrhythmen und der europäischen Marschmusik herausgebildet, wobei dieses schwebende, im Prinzip auf einem dreiteiligen Metrum basierende Feeling Swing erst dadurch entstanden sei, dass diese Überlagerung nach jenem Prinzip der rhythmischen Akzentverschiebung passiert sei, das in Afrika vorherrsche. Hendler wiederum sieht die Wurzeln des Swingfeelings in alten europäischen Tänzen, die ja vielfach im Dreiviertel-, Neunachtel- oder Zwölfachteltakt gestanden seien oder sogar in der mittelalterlichen dreiteiligen sogenannten "Longa Perfecta". "Da könnte man sich vorstellen, dass wenn das einmal in die Hand von Afroamerikanern kommt, das ergibt, was man heute den Swing nennt", sagt Hendler im Interview, fügt aber auch hinzu: "Das ist allerdings noch sehr vage".

Maximilian Hendler vertritt im wesentlichen die Theorie, dass jene Elemente des Jazz, die man gemeinhin als afrikanisch bezeichnet, ursprünglich aus Europa stammen und erst auf dem Boden der heutigen USA von den Farbigen übernommen und zu ihrem Stilmittel gemacht wurden. Die aus Europa eingewanderten Amerikaner hätten wiederum diese ihre eigenen alten Traditionen vergessen und als sie dann im Jazz auftauchen, diese als afrikanisch klassifiziert.

Swing in Mali
Dem widerspricht der Saxophonist Archie Shepp vehement: Was konkret den Swing betrifft, so Shepp, habe er selbst in Mali mit Musikern gespielt, die sehr gut swingen konnten, ohne jemals Jazz zu haben. Dieses Feeling gäbe es in der afrikanischen Folklore sehr wohl. Und was alle anderen Elemente des Jazz angeht, die als "schwarz" angesehen werden, aber eigentlich aus Europa stammen, stellt Archie Shepp die Frage, wie denn die Slaven diese europäischen Traditionen gelernt haben sollen? Hätten die Sklaven Musiklehrer gehabt? Das sei absurd, sagt Shepp. Hendler widerspricht: Vor allem jene Sklaven, die in den Häusern arbeiteten, hätten sehr wohl Zugang zur europäischen Musik gehabt. Außerdem seien nicht alle Afroamerikaner bis zum Bürgerkrieg Sklaven gewesen, so Hendler weiter.

Im Grunde genommen ist es schlüssig und logisch, zunächst auf dem amerikanischen Kontinent nach den schwarzen Jazzeinflüssen zu suchen und dann erst, wenn sich Linien in diese Richtung ergeben, nach Afrika weiterzugehen. Die Begründung dafür ist einfach und kommt vom afroamerikanischen Schlagzeuger Rashid Ali, der zwei Jahre lang, von 1965 bis zu dessen Tod 1967, in der Band des Saxophonisten John Coltrane spielte.

Er sagt: "Die Afrikaner waren 400 Jahre in Amerika, bevor sie frei wurden und tun konnten, was sie wollten. Und nach all diesen Jahrhunderten, die wir jetzt schon in Amerika sind, würde ich sagen, dass meine Vorfahren allesamt Amerikaner waren. Schwarze Amerikaner, Afroamerikaner, wenn man das so nennen will. Ich bevorzuge aber 'Schwarze Amerikaner'. Es gibt heute schwarze Leute, die denken, sie seien Weiße und umgekehrt. Manchmal hört du einen Weißen Musik machen, und wenn du die Augen schließt, denkst du, derjenige ist schwarz. Es gibt diese Trennung nicht mehr. Natürlich begann die Musik schwarz, aber mittlerweile ist sie einfach nur amerikanisch, eine Musikform, die aber auf der ganzen Welt gespielt wird. Du wirst nirgendwo auf der Erde keine Jazzmusiker finden."

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