Ein Selbstversuch unter Supervision

Die Eroberung der Geschmackskultur

Was kann der geschulte Gaumen eines Profi-Gourmets, der sein "Brot", nein, der pochierten Lachs mit Kaviarkartoffeln im Schnittlauchsahnebett verdient, was ich nicht kann? Ist guter Geschmack den Konsumenten der Spitzengastronomie vorbehalten?

Essen erschließe sich mit unseren Sinnen, nicht mit unserem Geldbeutel, so das Credo des deutschen Gourmetkritikers Jürgen Dollase, Autor der "FAZ". Er plädiert für die Demokratisierung des Geschmacks. Das "gute Schmecken" sei für jedermann erlernbar. Jürgen Dollase hat einige Bücher zu diesem Thema verfasst, die "Kochuniversität" in mehreren Bänden oder die "Geschmacksschule". Darin zeigt er den Königsweg, um eine Sensibilität der Sinne zu entwickeln, die guten Geschmack erlebbar werden lässt. Man erlerne erst einmal das Einmaleins des Schmeckens anhand der Begegnung mit unterschiedlichen Geschmackskomponenten. Zu diesem Zweck hat Dollase den "Degustationslöffel" erfunden:

Man nehme einen Löffel und erweitere schrittweise die Aufgabenstellung, indem man eines nach dem anderen hinzufügt und probiert: erst Joghurt, dann gemeinsam mit einem Klecks Marmelade, dann kommen einige Stückchen säuerlicher Apfel hinzu, hierauf noch Nussstückchen, gerieben, und zuletzt ein Stück Zwieback. Was passiert? "Man kann beobachten, wie es wirkt, ob man sofort ein Aroma schmeckt. Aroma ist nur eine Seite des Geschmacks, Textur, Temperatur, Duft kommen auch noch hinzu und die Optik im Grunde genommen auch noch."

Das erfährt man bereits beim Genuss eines simplen Gerichts: "Nehmen wir das Apfelkompott: Das Apfelkompott wirkt anders, ob es warm oder kalt ist. Wenn es Körpertemperatur hat, ist das sensorisch kein Probleme, kommt es aus dem Kühlschrank, so dauert es drei oder vier Sekunden, bis Sie merken, das ist ein Apfel."

Trainingsparcour des Schmeckens

Während Weinseminare als Institutionen der Erwachsenenbildung bereits gesellschaftlich etabliert sind, fehlt bislang noch ein vergleichbares edukatives Programm für das kultivierte Schlemmen. Im Vorwort zu seiner "Geschmacksschule" empfiehlt Dollase daher:

Der unmittelbare Kontakt mit dem Material "Essen" wird schon für sich selber sprechen. Hier ist ein komplexes Sensorium zu entdecken, und wir brauchen dazu nicht viel mehr als ein wenig Arbeit in der Küche und dann eine präzise Beobachtung, was in unserem Mund und mit uns passiert.

Ein wenig Arbeit in der Küche? Wer Dollases Trainingsparcour des Schmeckens folgen möchte, sieht sich vor köstlichen, aber höchst anspruchsvollen Herausforderungen. Etwa: Frittiertes Risotto mit geeistem Gazpacho; Sojasahne mit karamellisierten Gemüsestreifen und Apfel-Air; Krabben, warme Salatherzen und Wachtelspiegelei; Crevetten mit Rosmarin-Kohlrabischaum und Kartoffelstroh – und sogar: eine "teilweise dekonstruierte" Currywurst.

Testen mit Degustationslöffel

Ich wähle etwas vergleichbar Einfaches zum Start, schließlich möchte ich meinem ungeschulten Gaumen nicht zu viel abverlangen: Platzende Kirschtomate mit Tomatenvariationen. Eine Tomate ist eine Tomate ist eine Tomate? Falsch! Selbst bei dieser simplen Aufgabenstellung muss einiges geleistet werden.

Die Variationen bestehen aus mit Kastanienhonig verfeinerter Tomatenmarmelade und Tomaten-Oliven-Kompott, darauf gesetzt eine Kirschtomate, bei 60 Grad erhitzt, rundum dekoriert mit nicht zu dunkel gerösteten Pinienkernen und 7x7 Millimeter groß gewürfelten Tomatenstückchen, oben drauf ein halbes Basilikumblatt. Und dann, der große Augenblick: Laut Degustationsnotiz sollte im Mund nun Folgendes passieren.

Diesen Löffel sollte man vorsichtig in den Mund nehmen und zuerst der schmelzenden Tomatenmarmelade und dem Tomaten-Oliven-Kompott etwas Zeit zur Entwicklung geben. Dann die Kirschtomate mit der Zunge zerdrücken. Es ergießt sich ein wunderbar pures Tomatenaroma in den Mund, abgerundet von der leicht krossen Textur der Pinienkerne und dem nachhaltigen Aroma des Basilikums.

Kross: das muss man uns Österreichern erst einmal erklären. Meint das knackig oder knusprig? Nein, eben diese bestimmte harte Konsistenz eines Toasts zum Beispiel, der beim Hineinbeißen zerbröselt. Kross eben.

Ein Apfel ist kein Apfel

Überhaupt die Sprache. Zur Kultur des Essens gehört es ja wie bei jeder Kultur, über das, was man dabei erlebt und reflektiert, auch sprechen zu können. Und da fehlen erst einmal noch die Worte. Jürgen Dollase hat eine Sprache entwickelt, die sich grafisch darstellen lässt. Jedes Produkt nimmt ja einen ganz individuellen sensorischen Verlauf, der in eine Kurve übertragen werden kann, daraus ergibt sich für jedes Gericht ein Diagramm mit den unterschiedlichsten Kurven. "Wenn man diese Kurven nach Intensität und Zeit ausgerichtet übereinander malt, kommt man zu interessanten Ergebnissen über das Essen.

Mit dem Weinaroma ist es ja vergleichsweise einfach: Wein schmeckt nämlich häufig nach Essbarem. Fruchtig zum Beispiel, mit einer Brombeernote und dem Hintergrund von Vanillegeschmack, oder nach Schokoladearoma mit einem Hauch von Tabak im Abgang, zuweilen vielleicht sogar mal nach Leder oder Schweiß. Während aber Essen in erster Linie nach sich selbst schmecken sollte: ein Apfel mit dem Aroma von feuchtem Sattelleder wäre eben kein guter Apfel.

Erlebnis und Erinnerung

Und zuletzt: Die Geschmacksache am Geschmack, das ist natürlich der Gesamteindruck. Um diesen überhaupt möglichst unverfälscht wahrnehmen zu können, warnt Dollase vor dem Gebrauch von Parfum oder Rasierwasser, ebenso vor intensiv duftenden Gästen am Nebentisch, vor rußenden Kerzen. Rauchen am Esstisch kommt gar der Körperverletzung gleich.

Gibt es denn den Geschmack pur? Ist nicht Essen unweigerlich in einen situativen Kontext gebunden? Ist nicht als kulinarisches Ereignis erinnerlich geworden, was bei der Großmutter immer so ähnlich geschmeckt hat, oder weil der Sonnenuntergang in der Toskana besonders beeindruckend und die Nacht dann so romantisch war?

Jürgen Dollase: "Es gibt diese emotionalen Verknüpfungen und sie sind wunderbar und sie füllen unsere Erinnerungen, aber sie sagen wenig über das Essen aus. Wir brauchen aber die Aussagen über das Essen, nicht um unsere emotionalen Erinnerungen auszuschalten, aber die Strukturierung des Geschmacks hat enorme gesellschaftliche Folgen! Wenn es uns gelingt, eine Sensibilisierung zu etablieren, werden sich viele Probleme, die wir mit dem Essen haben, von der eigenen Gesundheit bis zu dem, was wir konsumieren, bis zu Bionahrung, unter ganz neuen Aspekten gesehen werden. Der sensibilisierte Mensch wird unsensibles Essen nicht mehr so ohne weiteres zu sich nehmen und wenn, dann mit schlechtem Gewissen."

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 18. Oktober 2008, 17:05 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Veranstaltungs-Tipp
Ausstellung "Geschmacksache. Was Essen zum Genuss macht", 22. Oktober 2008 bis 21. Juni 2009, Technisches Museum Wien,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten ermäßigten Eintritt (20 Prozent).

Link
Jürgen Dollase