"Natürliche" Aromen

Sägespäne, Schimmelpilze, Menschenhaar

Damit Nahrungsmittel als schmackhafte Gerichte auf dem Tisch stehen, spielen heute Industrie und Labor eine genauso wichtige Rolle wie die Küche und die Herkunft der Rohstoffe. Damit es schmeckt, sind komplexe Prozesse notwendig.

"Man nehme Sägespäne, genauer: australische Sägespäne." Ginge Sägemehl auch? Nein, sagt lächelnd der Mann, Sägespäne sollten es schon sein. Man füge Alkohol hinzu und Wasser, dazu einige andere Zutaten (geheim, geheim!) und rühre es zu Brei. "Das kocht man ein wenig", sagt der Künstler. "Und bald schon habe ich ein schönes, natürliches Aroma von Erdbeeren. Mit leicht verändertem Rezept können die mutierten Späne auch als Himbeeraroma durchgehen, Kakao, Schokolade oder Vanille vortäuschen."

Das schreibt Hans Ulrich Grimm in seinem Buch "Die Suppe lügt - Die schöne neue Welt des Essens". Doch seien wir dankbar für das natürliche Aroma, das australischen Sägespänen entlockt werden kann. Es gibt nämlich auf unserer Erde nicht nur zu wenig sauberes Trinkwasser, zu wenig Parkplätze und überhaupt zu wenig Gerechtigkeit, es gibt auch viel zu wenig Erdbeeren. Die Jahres-Welt-Ernte an Erdbeeren würde gerade einmal ausreichen, um nur in den USA läppische zehn Prozent aller Erdbeerprodukte herzustellen, also Erdbeer-Eis, Erdbeer-Joghurt, Erdbeer-Kuchen etcetera. Wir brauchen also das Aroma, natürliches Aroma, wohlgemerkt, ob es nun aus Sägespänen gewonnen wird, aus Bodenbazillen, Rizinusöl, Schimmelpilzen oder Weizenkleber - allesamt Grundstoffe für natürliche Aromen. Der Mensch musste ja der Natur immer schon ein bisschen nachhelfen.

Kirschen aus Preiselbeeren

So ein Früchtequark ohne Aromastoffe schmecke ja wie eingeschlafene Füße, sagte der Verkaufsleiter einer schweizerisch-deutschen Früchteverarbeitung am Bodensee. Das mag ja vielleicht daran liegen, dass nicht nur der Geschmack maskiert ist, sondern dass auch die Früchte verkleidet sind.

Die Firma Ocean Spray liefert der amerikanischen Lebensmittelindustrie Fruchtstückchen. Für Kirsch-, Himbeer-, Erdbeer- und Heidelbeerprodukte. Der Prospekt verspricht: Sie haben die Farbe der Früchte, das Aussehen der Früchte und sie schmecken wie die richtigen Früchte, aber sie sind viel stabiler und belastbarer. Das liegt daran, dass es sich immer um Preiselbeeren handelt. Die werden mit Aromen und Farbstoffen so umgeschult, dass sie als Erdbeeren oder Kirschen auftreten können.

Zutaten aus der Retorte

Seit Maggis Suppenwürze, Liebigs Fleischextrakt, Mège-Mouriès' Margarine, Knorrs Trockensuppe, Oetkers Backpulver und Pembertons brauner Brause namens Cola bekommen wir einen Großteil der Lebensmittel nicht mehr so angeboten, wie sie in der Natur vorkommen, schreibt Hans Ulrich Grimm:

Wer morgens Nesquik trinkt, schluckt Geschmack aus dem Labor, wer lieber Jacobs' Kaffee Amaretto mag, ebenfalls. Müllers Knusper-Joghurt-Schoko-Müsli ist schmackhaft dank der Künste der Chemiker. Auch Pfannis Bauernfrühstück, die Pasta du Chef von Maggi oder die 5-Minuten-Terrine Asia - alles Aroma. Der Würzspinat von Iglo, Marke Grüne Küche, ja sogar der Hummerfonds der Feinschmeckerfirma Lacroix und die eigentlich puristisch anmutenden jungen Erbsen ("sehr fein") von Bonduelle - nichts schmeckt ohne die Zutat aus der Retorte.

Viele Leute finden das gut. Weil es ja auch bequemer ist, einen Suppenwürfel ins Wasser zu werfen als Gemüse zu putzen. Manche Leute finden das nicht so gut und sehen sich das Kleingedruckte auf den Etiketten genauer an. Andere Leute wiederum erwarten sich von bestimmten Nahrungsmitteln sogar Gesundheitsförderung.

"Gesunde" Ernährung

Essen mit Rechtsdrehung. Man füllt den Magen und tut seiner Gesundheit etwas Gutes. Zeitschriften haben schon darüber gespottet, dass es ein neues Krankheitsbild gebe: Orthorexia nervosa - die zwanghaft gesunde Ernährung. Hans Ulrich Grimm:

Sogar die Bio-Lebensmittel sind oft aromatisiert, etwa der Brühwürfel Typ Rind des Herstellers Erntesegen, ebenso das Naturjoghurt mild von der Bioland-Molkerei im bayerischen Andechs, Geschmacksrichtung Erdbeere. Die Bio-Verordnung der Europäischen Union erlaubt die Geschmackstricksereien ausdrücklich.

Gute und schlechte Landesküchen

Für Geschmacksveränderungen genügen oft unvorstellbar kleine Mengen chemischer Substanzen. Das 2-Acetyl-1-Pyrrolin, das für den Geschmack der Weißbrotkruste verantwortlich ist, wirkt schon in einer Dosis von 70 Millionstel Gramm pro Kilo. Und bei gar nur 0,2 Milliardstel Gramm Menthentiol pro Liter entsteht der Geschmackseindruck von frischem Grapefruitsaft.

Dennoch benötigen alle EU-Länder zusammen pro Jahr 170.000 Tonnen Industriearomen, die sind allerdings ungleich verteilt. Welches Land benötigt - natürlich in Relation zu seiner Einwohnerzahl - die wenigsten Aromastoffe: Italien, Holland oder Großbritannien? Die Italiener brauchen am wenigsten, die Holländer und Briten am meisten. Das bestätigt eigentlich alle Vorurteile über gute und schlechte Landesküchen.

Im Zusammenhang mit Brot gibt es das hartnäckige Gerücht, dass darin auch Tier- oder Menschenhaar mitverarbeitet wird, speziell - um deren Volumen zu erhalten - in den halbfertig zu kaufenden Brötchen und Baguettes, die man im eigenen Backrohr fertig bäckt. An dem Gerücht ist etwas dran. Es war kleingehäkseltes Menschenhaar aus China, das vor Jahren manchen Teigen beigemengt war, denn die Haare enthalten den Wirkstoff L-Cystein, der eine kleberstabilisierende Wirkung hat. Mittlerweile wird das L-Cystein aber synthetisch hergestellt.

Erdbeeren aus Spanien

Die iberische Halbinsel stöhnt allsommerlich unter Hitze und Dürre: verdorrte Ackerflächen, Waldbrände, ausgetrocknete Stauseen. Eine der Ursachen für die Misere ist die mit EU-Subventionen entstandene exzessive Landwirtschaft vor allem im Süden des Landes, in der Provinz Almería. Von dort wird Europa gleich nach Weihnachten mit Erdbeeren überschwemmt, die zwar schön aussehen, aber nach nichts schmecken. Von dort aus werden die europäischen Supermarktregale mit Tomaten und Paprika aufgefüllt, denen häufig eine zu hohe Pestizidbelastung nachgesagt wird. Die Anbaugebiete benötigen so viel Wasser, dass die frühere konservative Regierung Aznar schon die Umleitung des Flusses Ebro in den Süden erwogen hat.

Die nun regierenden Sozialisten setzen eher auf Meerwasserentsalzungsanlagen, die freilich sehr viel Energie benötigen. Von der spanischen Südgrenze, einer Schengengrenze, ist es nicht mehr weit nach Marokko. Beständig versuchen Menschen aus Nordafrika hier, nach Europa zu kommen. Spanien muss das einerseits verhindern, andererseits benötigen die riesigen Obst- und Gemüseplantagen der Provinz Almería dringend die illegalen Schwarzarbeiterinnen und -arbeiter aus Afrika, die unter unvorstellbar schlechten Bedingungen unter den Plastikplanen arbeiten und wohnen. Also eigentlich ist das Obst und Gemüse aus der Provinz Almería sozialpolitischer Sondermüll. Und damit es nach etwas schmeckt, würden ein paar natürliche Aromastoffe aus Sägespänen nicht schaden.

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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 18. Oktober 2008, 17:05 Uhr

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Veranstaltungs-Tipp
Ausstellung "Geschmacksache. Was Essen zum Genuss macht", 22. Oktober 2008 bis 21. Juni 2009, Technisches Museum Wien,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten ermäßigten Eintritt (20 Prozent).

Link
TMW - Geschmacksache