Zum 40. Todestag der Physikerin Lise Meitner

Die Kernspaltung im Kopf der Frau

1934 beschießt der Physiker Enrico Fermi Uran mit Neutronen. Er glaubt Transurane erzeugt zu haben. In Wahrheit hat er die erste Kernspaltung durchgeführt. Zu dieser Erkenntnis gelangt 1938 die österreichische Physikerin Lise Meitner.

Rom, 1934. Der italienische Physiker Enrico Fermi hat Uran mit Neutronen beschossen. Dabei sind angeblich noch schwerere Elemente entstanden, die in der Natur nicht vorkommen: Transurane, künstlich erzeugte radioaktive Elemente. Vier Jahre lang bezweifelt kaum jemand die Richtigkeit dieser Hypothese. Am 10. Dezember 1938 wird Fermi für diese Leistung der Physiknobelpreis in Stockholm überreicht. Doch schon ein paar Wochen danach muss die Königlich-Schwedische Akademie erkennen, dass dies ein Irrtum gewesen ist.

Fermi, der Prometheus der italienischen Kernphysik, hat zwar ein weltbewegendes Experiment durchgeführt, aber sein Resultat falsch interpretiert: ohne es zu ahnen, hat Fermi in Wahrheit die erste Kernspaltung durchgeführt! Zu dieser epochalen Erkenntnis gelangt Ende 1938 eine zierliche, schon etwas ältere Frau: die österreichische Physikerin Lise Meitner.

Wien - Berlin - Stockholm - Kungälv

Lise Meitner wird am 17. November 1878 als drittes Kind jüdischer Eltern in Wien geboren. In diesem Jahr darf man noch Jude, nicht aber eine Frau sein, wenn man studieren möchte. Trotzdem nimmt Lise Meitner später an der Wiener Universität ein naturwissenschaftliches Studium auf: Mathematik und Physik.

Die 28-Jährige und ihre Kommilitonin Selma Freud sind erst die zweiten Frauen, die 1906 an der Universität Wien in Physik promovieren. Meitners großes Vorbild ist Marie Curie, deren Arbeiten über Radioaktivität sie begeistern und zu eigenen Forschungen antreiben. 1907 übersiedelt die Physikerin nach Berlin, wo sie Max Plancks Assistentin wird und ihre Zusammenarbeit mit dem Radiochemiker Otto Hahn aufnimmt. Das fundamentale Ergebnis dieser äußerst fruchtbaren Forschungskooperation ist die Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1938.

Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Lise Meitner allerdings schon im schwedischen Exil. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März ist der Jüdin gerade noch die Flucht aus Berlin gelungen.

Den Nationalsozialisten entkommen, arbeitet die 60-jährige Ausnahmephysikerin nun am Nobelinstitut in Stockholm. Per Ferndiagnose kann Meitner unter Mithilfe ihres Neffen Otto Robert Frisch erklären, was ihre Berliner Forschungspartner - die beiden Chemiker Hahn und Fritz Strassmann - im Experiment durchführen, aber nicht deuten können. So wie Enrico Fermi vier Jahre zuvor: die Spaltung des Atomkerns. Ort des Geschehens ist Kungälv, ein kleiner Ort im Südwesten Schwedens, wo Lise Meitner und Otto Robert Frisch die Weihnachtsferien verbringen.

Barium statt Radium: ein unerklärbares Messresultat

Dezember 1938, Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, Berlin-Dahlem. Direktor Otto Hahn und sein junger Mitarbeiter Fritz Strassmann setzen wieder einmal Uran, das schwerste Element in der Natur, einem Neutronenhagel aus.

Künstlich sollen so neue, radioaktive Elemente entstehen, die noch schwerer sind: Transurane. Der frisch gekürte Nobelpreisträger Enrico Fermi hat vor vier Jahren vorgezeigt, wie das bei dem Uran-Atomkern funktioniert. Er hat die Kernladungszahl 92, besitzt also 92 positiv geladene Kernladungsteilchen, 92 so genannte Protonen.

Vorschriftsmäßig schicken Otto Hahn und Fritz Strassmann die ausgestoßenen Neutronen durch einen Paraffinblock, bevor sie in den Atomkern schießen. Erst diese verlangsamten Neutronen können von dem Atomkern geschluckt werden. Bleibt ein Neutron dort stecken, kann es sich in ein Proton und ein Elektron verwandeln. Das Elektron fliegt aus dem Kern, übrig bleibt ein Atomkern, in dem sich nun ein Proton mehr befindet. Der Uranatomkern hat also plötzlich die Kernladungszahl 93. Er besitzt also 93 Protonen. Ein Transuran muss entstanden sein. So hat Enrico Fermi 1934 jedenfalls seine Experimente gedeutet.

"Falls Du irgendetwas vorschlagen könntest..."

Hahn und Strassmann unterziehen ihre bestrahlte Uranprobe einer chemischen Analyse. Sie erwarten verschiedene Isotope des Elements Radium, die radioaktiv sind und schnell wieder zerfallen. Also messen Hahn und Strassmann die Radiumisotope mit einem Geigerzähler, aber irgendetwas stimmt nicht. Die Radium-Isotope lassen sich nicht nachweisen.

Hahn und Strassmann finden Barium in der Probe. Falls ihnen kein Fehler unterlaufen ist, bedeutet das eine wissenschaftliche Revolution. Ein Barium-Atomkern hat die Kernladungszahl 56, er ist also viel kleiner und leichter als ein Uranatomkern. Das würde bedeuten, dass gar kein schwereres Transuran entstanden ist. Das würde bedeuten, dass der Uranatomkern durch den Neutronenbeschuss gespalten wurde!

Otto Hahn ist von der Richtigkeit seiner Messergebnisse überzeugt, weiß sie aber nicht zu deuten. Am 19. Dezember 1938 erhält Lise Meitner in Stockholm einen aufgeregt klingenden Brief aus dem Berliner Labor. "Immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluss: Unsere Radium-Isotope verhalten sich nicht wie Radium, sondern wie Barium. Wir wissen dabei selbst, dass es eigentlich nicht in Barium zerplatzen kann… Falls Du irgendetwas vorschlagen könntest, das Du publizieren könntest, dann wären es doch noch eine Art Arbeit zu dreien." Lise Meitner kann - schon am 24. Dezember 1938.

Ein erhellender Winterspaziergang

Am Weihnachtstag unternehmen Meitner und ihr Neffe Otto Robert Frisch einen langen Spaziergang, auf dem ihnen die theoretische Deutung der Kernspaltung gelingt. Die beiden stellen sich den Atomkern wie einen Flüssigkeitstropfen vor, so wie es Niels Bohrs Atommodell nahe legt und auch George Gamovs Theorie beschreibt.

Will man einen solchen Tropfen spalten, steht dem als starke Kraft die Oberflächenspannung entgegen. Doch ein Atomkern unterscheidet sich in einem fundamentalen Punkt von einem Flüssigkeitstropfen: Er ist elektrisch geladen, positiv, und dies wirkt der Oberflächenspannung entgegen.

Meitner und Frisch vermuten, dass bei einem großen, instabilen Atomkern starke Abstoßungskräfte zum Zerplatzen führen. Später schreibt Meitner: " ... es bildet sich eine Art 'Taille' und schließlich erfolgt eine Trennung in zwei ungefähr gleich große, leichtere Kerne, die dann wegen ihrer gegenseitigen Abstoßung mit großer Heftigkeit auseinanderfliegen."

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, unterbrechen Meitner und Frisch ihren Spaziergang durch die Winterlandschaft Kungälvs. Sie setzen sich auf einen Baumstamm und beginnen zu rechnen, ist in den Erinnerungen Otto Robert Frischs nachzulesen. "Dann begannen wir auf kleinen Zettelchen zu rechnen und fanden, dass die Ladung des Urankerns tatsächlich genügte, um die Oberflächenspannung fast vollständig zu überwinden. Der Urankern glich also wirklich einem wackelnden, unstabilen Tropfen, der bei geringster Störung, wie zum Beispiel beim Aufprall eines einzigen Neutrons, in zwei Teile zerfallen kann."

Tempo ist Energie

Bei der Spaltung des Urankerns fliegen diese zwei Teile mit hoher Geschwindigkeit auseinander. Und Tempo ist Energie. Meitners und Frischs Berechnungen ergeben ungefähr 200 Megaelektronvolt. Eine erstaunlich genaues Resultat, wenn man es mit heutigen experimentellen Resultaten vergleicht.

Woher kommt diese Energie? Meitner erinnert sich an die Berechnungsformel von Kernmassen. Sie findet heraus, dass die zwei Kerne, die sich bei der Spaltung des Urankerns bilden, zusammen leichter als der ursprüngliche Urankern sind: der Unterschied beträgt ein Fünftel Protonenmasse.

Wenn Masse verschwindet, entsteht nach Einsteins Formel E=mc² Energie. Und ein Fünftel Protonenmasse entspricht genau der Energie von 200 Megaelektronvolt. Nun passen Experiment und Theorie zusammen. Otto Hahn und Fritz Strassmann haben in Berlin tatsächlich den Atomkern gespalten. Und Lise Meitner und Otto Robert Frisch haben in Kungälv die physikalische Erklärung dafür gefunden!

Die verhinderte Nobelpreisträgerin

Lise Meitner und drei Männer haben 1938 durch die Entdeckung der Kernspaltung die Atomphysik auf den Kopf gestellt. Sieben Jahre später, 1945, wird dafür allerdings nur Otto Hahn mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet, rückwirkend für das Jahr 1944.

Hahns Berliner Kollege Fritz Strassmann geht in Stockholm ebenso leer aus wie Otto Robert Frisch und vor allem - Lise Meitner. Bis heute für viele Physiker und Wissenschaftshistoriker eine der umstrittensten Entscheidungen der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Für einige sogar eine glatte Fehlentscheidung.

Lise Meitner hat in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder massive Benachteiligungen als Frau erfahren müssen. In dieser Hinsicht ist die Nicht-Berücksichtigung in Stockholm der letzte, aber hochoffizielle Diskriminierungsakt gegen eine Wissenschaftlerin gewesen, deren Arbeiten zu den bedeutendsten in der Kernphysik des 20. Jahrhunderts zählen.

"Österreichs Madame Curie" stirbt am 27. Oktober 1968 in Cambridge. Heute erinnert das chemische Element 109 an die bedeutende Physikerin: das "Meitnerium".