Warum wir Gut und Böse unterscheiden können

Die gefühlte Moral

In ständiger Wechselwirkung mit unserer biologischen Natur leitet uns die Kultur, in der wir leben - zum Guten oder Bösen. Was das für unser Werte- und Rechtssystem bedeute, beschreibt der Wissenschaftsjournalist Frank Ochmann in seinem Buch.

Warum können wir Gut und Böse unterscheiden, woher eigentlich kommt unser Moralempfinden, fragt Frank Ochmann in seinem Buch, dessen Umschlag das altbekannte Bild von der Schlange, der Frauenhand und dem Apfel ziert. Damit, so der studierte Physiker und Theologe, mit einem Augenzwinkern, hat alles angefangen.

Hätte der Mensch im Paradies, seinem Gott gehorsam, auf den Sinn für Gut und Böse verzichtet, müsste er sich heute nicht mit der Moral herumschlagen. Das bleibt nun auch uns nicht erspart.

Moralische Normen

Frank Ochmann, der heute als Wissenschaftsjournalist in Hamburg lebt und arbeitet, geht der Natur der Moral auf die Spur. Dazu widmet er den ersten Teil seines Buches einem ausführlichen und soliden Überblick über das Denken in den modernen Life Sciences und stellt dem die Traditionen philosophisch-theologischer Suche nach dem Guten im Menschen gegenüber.

Mit der Moral verfügt der Mensch über ein soziales Instrument, das mächtig genug ist, um ganze Gesellschaften aus Individuen zu schmieden, die auf der Suche nach dem glücklichen, angenehmen Leben eigentlich vor allem ihren eigenen Interessen folgen. Moralische Normen schaffen kooperierende Gesellschaften, argumentiert Frank Ochmann.

Doch die Moral fällt nicht vom Himmel und ihre Regeln werden auch nicht von göttlicher Hand in Stein gehauen. Trotzdem haben wir ein Gewissen oder einen inneren Kanon von Verhaltensregeln, an dem wir uns intuitiv orientieren. Die Regeln dieses Kanons aber gewinnen wir ganz irdisch aus Beobachtung der anderen. So wird von Kindheit an Erfahrung verinnerlicht und zur Grundlage für späteres Handeln.

Gefühl vor Verstand

Die aktuellen Erkenntnisse der Verhaltensforschung und der Neurowissenschaften zeigen, dass moralische Entscheidungen aufgrund von Gefühlen getroffen werden. "Gefühl vor Verstand und fertiges Urteil vor sachlicher Begründung", lautet das Resümee des Autors, das er aus den zahlreichen zitierten Untersuchungen über die zeitliche Abfolge moralischer Schlüsse zieht. Demnach wären wir in unserem Alltag Gut und Böse nicht unvoreingenommen auf der Spur,...

...sondern wir agieren wie Anwälte und Politiker: Wir argumentieren in einem konkreten Fall in eigener Sache und versuchen, die Dinge so darzustellen, wie sie uns am besten in den Kram passen. Unser Verstand ist also vor allem eine Propaganda- oder Werbemaschine für das, was unsere Gefühle zusammenbrauen und was wir anderen als sinnvoll, ja logisch verkaufen müssen.

Keine bessere Moral durch Emotionen

Laborsituationen, in denen es darum geht, herauszufinden, welche Bedeutung Gerechtigkeitsempfinden, Fairness, Schadenfreude, Belohnung und Bestrafung dafür haben, wie sich Menschen verhalten, sind vor allem auch in den experimentellen Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahren stark en vogue - und sie alle bestätigen, dass es nicht die rein rational betrachtet effizientesten Entscheidungen sind, bei denen wir uns auch am besten fühlen. Genau davon, wie wir uns nämlich fühlen, wird aber unser Handeln geleitet.

Dass unsere Moral also im Kern eine "gefühlte" ist, bedeutet keineswegs, dass sie deshalb warm, mitfühlend, "menschlich" ist. Denn durch die überragende Rolle der Emotionen wird die Moral nicht "besser", sondern zunächst einmal nur unlogisch. Mit allen Folgen, die das haben kann.

Wieder dient ein Experiment von Neurobiologen als Beleg: Stellen Sie sich vor, Sie wären mit Ihrem Baby und einigen anderen Menschen in einem Keller vor einer randalierenden feindlichen Gruppe oben im Haus versteckt. Ihr Kind will schreien - tut es das, werden die Randalierer über Ihnen auf Sie aufmerksam und bringen alle um, halten Sie ihrem Kind den Mund so fest zu, dass es nicht mehr schreien kann, erstickt das Baby, alle anderen werden aber gerettet.

Im Dilemma

Diese Entscheidung stellte "normale" Versuchspersonen vor kaum lösbare moralische Dilemmata. Menschen mit Schädigungen in den Teilen des Gehirns, die unter anderem für das Belohnungsgefühl verantwortlich sind, hatten hingegen keine Probleme - sie entschieden sich rein numerisch-rational für die Variante mit den wenigsten Todesopfern, auch wenn das einzige Opfer dann das eigene Kind war.

Dass allerdings weder verschieden aktivierte Hirnareale, noch neuro-biologische Grundlagen, und auch nicht ausgeklügelte Verteilungsspiele ausreichen, um moralisches Empfinden oder Handeln zu erklären, ist dabei auch dem Autor klar.

Oder steckt in uns etwa das Wissen in den Genen, dass Besucher, die sich in einem asiatischen Tempel zum Erinnerungsfoto niederhocken und dabei ihre Fußsohlen Richtung Altar strecken, Buddha schwer beleidigen und damit womöglich alle, die ihn verehren? Ohne uns etwas dabei zu denken, können wir uns also nicht nur "daneben benehmen", sondern womöglich gar ein Verbrechen begehen. Das ist die moralische Welt, in der wir uns wirklich bewegen, nicht die Laborrealität mit ihren Verteilungsspielen, so sinnvoll diese auch für erste Erkenntnisse über moralisches Verhalten sein mögen. Da sie sich dafür besonders eignen, geht es bei solchen Experimenten fast immer um Verteilungsgerechtigkeit und Fairness. Aber das Spektrum moralischen Handelns ist natürlich viel breiter.

Gesellschaftspolitisch relevante Schlüsse
Dennoch gewinnt man aus der Lektüre zumindest des zweiten Teils des Buches den Eindruck, dass der Schlüssel zum Verständnis der Moral vor allem von den Hirnwissenschaften zu suchen und zu finden sei. Das kann man glauben, muss man aber nicht. Interessant und anregend ist die Lektüre "Der gefühlten Moral" allemal. Gerade auch, wenn der Autor gesellschaftspolitisch relevante Schlüsse aus den Laboruntersuchungen zieht.

Was die Moral der Mitglieder einer Gemeinschaft, die Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, zersetzt, sind verweigerter Respekt, fehlende Anerkennung für erbrachte Leistungen, entzogenes Vertrauen und damit alles in allem das Fehlen oder der Verlust von sozialer Belohnung. Es bereitet dann eben keine guten und wohltuenden Gefühle mehr, in einer solchen Gemeinschaft zu leben. Greift eine Haltung zunächst innerer und dann vielleicht auch äußerer Emigration um sich, ist das Ende der Gruppe besiegelt. Ganz gleich, ob es sich um eine Familie, einen Verein, ein Unternehmen oder eine ganze Gesellschaft, ja Kultur handelt.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Frank Ochmann, "Die gefühlte Moral. Warum wir Gut und Böse unterscheiden können", Ullstein

Link
Die gefühlte Moral