Verkehrte Welt

Ich werde hier sein im Sonnenschein...

In Christan Krachts Roman ist nichts so, wie es sein sollte: Die Schweiz ist zu einer militärischen Weltmacht aufgestiegen, Russland ist durch eine Chemiekatastrophe weitgehend menschenleer, und die USA haben sich von der Weltbühne verabschiedet.

Christian Kracht liest aus seinem Roman

Ich habe keine Angst mehr. Ich habe verlernt zu lesen, wie ich es früher konnte. Der Krieg macht uns zu Geisteskrüppeln. Weißt du, dass ich niemals den Frieden erlebt habe, nicht einmal als Säugling? Seschsundsiebzig Jahre diesen Sommer. Es kommt nichts mehr nach uns. Oder aber es geht immer so weiter.

Der Wind ist eisig, der Schnee lässt die Körper gefrieren. Der alte Schweizer Soldat blickt kurz auf den "Piz Lenin". Dann bittet er seinen Gesprächspartner, einen ranghohen eidgenössischen "Parteikommissär", um Verzeihung, weil er ihn so formlos angesprochen habe, aber es sei nun einmal selten, wenn ein Eidgenosse schwarze Hautfarbe habe. Doch vielleicht ist es gerade die Abstammung des Kommissär aus dem fernen Schwarz-Afrika, die den Soldaten an bessere Zeiten denken lässt.

Er steckte den Rasierapparat langsam und sorgfältig in seinen Beutel zurück und stand mit einem kleinen Seufzer auf. Dann zeigte er mir schüchtern ein paar bunte Glasmurmeln, die er, wie er erzählte, seit seiner Kindheit bei sich trug. Er begann zu weinen, und das Salz seiner Tränen brannte ihm an den Stellen, an denen er sich rasiert hatte, feine rote Striemen über die Wangen.

Lenin hat den Zug verpasst

In Christan Krachts neuem Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" ist nichts mehr so wie es sein sollte. Die Schweiz ist zu einer militärischen Weltmacht aufgestiegen. Krachts Buch deswegen als großen "Schweiz-Roman" zu bezeichnen, wäre verwegen. Die meisten eidgenössischen Leser würden sich bedanken, denn der große Lenin hat 1917 den Zug nach Russland verpasst, die Oktoberrevolution blieb aus. Russland ist durch eine Chemiekatastrophe weitgehend menschenleer, ein einzige große Steppe. Die USA haben sich von der Weltbühne verabschiedet. Und Lenin ist eben in der Schweiz geblieben und begründete die "SSR", die Schweizer Sowjetrepublik. Diese befindet sich in einem fast hundertjährigen Krieg mit einem deutsch-englischen Militärbündnis.

Die Schweizer bezeichnen ihre Feinde als "Faschisten". Allerdings berufen sich die Deutschen und Engländer auf Vaterland und Gott, während die Schweizer jede Kirche schleifen, die ihnen im Weg steht. Es gibt allerdings noch andere Großreiche, wobei Afrika eine Schlüsselposition zukommt: Ein Teil gehört den Briten, ein anderer ist sozialistisch-schweizerische Kolonie. Die Kriegslage selbst ist in Krachts Roman unklar

Die Schweiz als Kolonialmacht

Krachts Hauptfigur ist jener hochrangige "Parteikommissär", aus seiner Sicht werden die Geschehnisse in diesem "hundertjährigen Krieg" geschildert. Er ist in Afrika geboren und dort von den Schweizern zum Offizier ausgebildet worden. Jetzt steht er in den Alpen, ein schwarzer hoch dekorierter Schweizer, und nimmt in Schnee und Eis die Spur eines angeblichen Volksfeindes auf.

Eigentlich wollte der Autor einen Roman über das revolutionäre Russland der 1920er Jahre schreiben, aber dann war ihm dieser historische Rahmen doch zu eng. "Warum nicht eine imperiale Schweiz beschreiben, die gleichzeitig Kolonialmacht ist?", fragte sich Kracht, wie er im Gespräch erzählt, "die in Afrika ihr Unwesen treibt. Allerdings in meinem Buch denkt die Schweiz von sich, dass sie eine positive Wirkung auf Afrika hat. Und bringt Elektrizität und Eisenbahnen und die Moderne nach Afrika."

Schwarzer Humor

Man mag ob diesen unglaublichen Geschichtsverdrehungen Christian Krachts den Kopf schütteln, aber der Autor erreicht damit eine Ebene des schwarzen Humors, die schwärzer und beißender nicht sein könnte. Nicht der Vater, sondern der Motor vieler Dinge ist heute noch der Krieg. Staatsgrenzen - siehe Georgien - können mit einem Federstrich verschoben werden. Das, was sich im Irak oder in Afghanistan abspielt, wird zwar offiziell nicht "Krieg" genannt, ist es aber de facto. Und die einst reichen Länder Schwarz-Afrikas siechen dahin, getrieben von einem Bürgerkrieg in den anderen.

Da darf eines schon verwundern: Wieso findet der Krieg in den Büchern jüngerer deutschsprachiger Autoren einfach nicht statt?! "Ich bin vor vier Tagen aus Afrika zurückgekehrt, war in Liberia, ein sehr interessantes Land, das gegründet wurde von amerikanischen Sklaven im vorletzen Jahrhundert", erzählt Kracht. "Da ist ja der Krieg allgegenwärtig und furchtbar. (...) Der Krieg findet ja nicht statt - im deutschsprachigen Raum."

Literatur wird Welttheater

Während die meisten der deutschsprachigen Autoren zwischen dreißig und vierzig Jahren eigene Befindlichkeiten aufs Papier bringen oder gar sinnieren, ob Texte zwischen zwei Buchdeckeln angesichts von Internet und Multimedia noch Sinn machen, wagt Christian Kracht den großen Wurf: Literatur wird Welttheater. "Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?", fragt Kracht mit Thomas Bernhard.

Der andere große Autor, der zeitweise Kracht beim Schreiben über die Schultern schaute, ist Ernst Jünger. Der Krieg ist der Vater des Stils. Wobei es bei Kracht weniger um den faktischen Kriegszustand geht, sondern um eine Weltgemeinschaft, die von Frieden spricht, jedoch den Krieg als Konstante ihres Handelns und Denkens fest einplant.

Wer Krachts neuen Roman liest, der wird manchmal wegen einiger Ungenauigkeiten seufzen, aber er wird den Atem anhalten aufgrund eines Schreibstils, der seinesgleichen im deutschsprachigen Raum suchen darf. Der Autor kann erzählen, beschreiben und er tut dies mit Präzision. Ein Hauch des 19. Jahrhunderts weht einem beim Lesen entgegen, aber durch die Kraft der Imagination entgeht der Autor aller postmoderner Spielerei. In Christian Krachts Schweizer Sowjetrepublik darf man nicht mehr schreiben, sondern nur noch mündlich Bericht erstatten. Genau hier bezieht der Autor seine Frontstellung: Schreiben ist Stil, ist Weltentwurf.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 2. November 2008, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Christian Kracht, "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten", Kiepenheuer & Witsch