Ein neuer Blick auf die Gesellschaft
Der Mann mit dem Zettelkasten
Der Soziologe Niklas Luhmann gilt als Begründer der Systemtheorie. Seine Medienkritik "Die Realität der Massenmedien" ist heute so aktuell wie im Erscheinungsjahr 1995. Der Medienanalytiker selbst verzichtete allerdings auf Computer und Fernsehapparat.
8. April 2017, 21:58
Als Niklas Luhmann 1969 bei seiner Aufnahme in die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld gefragt wurde, wie er denn sein künftiges Forschungsprojekt benennen würde, meinte er: "Die Theorie der Gesellschaft, Laufzeit 30 Jahre, Kosten: keine". Und tatsächlich fast dreißig Jahre später, kurz vor seinem Tod, erschien 1997 sein Hauptwerk "Die Gesellschaft der Gesellschaft".
Niklas Luhmann hatte ein eigenes Archivierungssystem: den sogenannten Zettelkasten, den er seit dem Jahr 1952 mit Notizen fütterte. Er hat die Literatur so breit gesichtet wie kein Soziologe vor ihm, meint Dirk Baecker, der Luhmanns Systemtheorie weiterentwickelt hat. Der Zettelkasten besteht aus 30 Schubladen à rund 3000 Zetteln. Der Soziologe hat den ganzen Tag mit dem Zettelkasten verbracht, indem er ihn entweder mit neuen Notizen fütterte oder Zettelpakete herausnahm, um sie für ein Buch zu verwenden.
Wie Gesellschaften funktionieren
Luhmann hat einen neuen Blick auf die Gesellschaft geworfen und erklärt, wie Gesellschaften funktionieren. Die Kommunikationswissenschaftlerin Margot Berghaus meint, es stellt sich immer mehr heraus, wie brauchbar seine Theorie ist. Die moderne Gesellschaft ist mittlerweile so komplex und ausdifferenziert, dass sie an vielen Stellen Subsysteme herausgebildet hat, die eigene Spezialaufgaben haben - wie die Subsysteme Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst oder die Massenmedien.
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien". (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien)
"Das ist erst mal erschütternd", sagt Dirk Baecker, "dass man es gar nicht glauben möchte. Wie kann es sein, dass man alle grösser formatigen Phänomene wie Politik Wirtschaft oder Rechtsentwicklung tatsächlich nur aus den Medien kennt? Obwohl immer aus zweiter, dritter, vierter Hand berichtet wird, hat man den Eindruck mit Wirklichkeit konfrontiert worden zu sein und nicht mit einer Show, die man am besten sofort abschaltet."
Wir sind an tägliche Nachrichten gewöhnt, aber man sollte sich trotzdem die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit einer solchen Annahme vor Augen führen. Gerade wenn man mit Nachrichten die Vorstellung des Überraschenden, Neuen, Interessanten, Mitteilungswürdigen verbindet, liegt es ja viel näher, nicht täglich im gleichen Format darüber zu berichten, sondern darauf zu warten, dass etwas geschieht und es dann bekannt zu machen. (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien)
Nachrichten "drogieren"
"Beim Hören der Nachricht", so Baecker, ist man schon gespannt, was wohl daraus wird, d.h. die nächste Nachricht wird schon vorbereitet. Das drogiert einen, zieht einen hinein in die Attraktion der Massenmedien."
Jede Sendung verspricht eine weitere Sendung. Nie geht es dabei um die Repräsentation der Welt, wie sie im Augenblick ist. (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien)
Die Massenmedien haben zwar keinen Eklusivanspruch auf Realitätskonstruktion, sie hat jedoch unvergleichliche Möglichkeiten der Verbreitung. Luhmann hat einige massenmediale Gesetze zugespitzt. Erstens, dass eine Nachricht nur dann eine Nachricht ist, wenn sie personalisiert und skandalisiert werden kann. Und zweitens, dass sie nur dann eine Nachricht ist, wenn der, der die Nachricht hört, die Chance hat, sich für besser zu halten als der, von dem die Nachricht handelt.
Die Liebe
1968/69 wird Luhmann an den Lehrstuhl in Frankfurt am Main berufen - er soll Theodor Adorno vertreten. Seine Antrittsvorlesung hat den Titel: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Und das, während alle anderen Intellektuellen über Marxismus und Spätkapitalismus heftige Debatten führen. Liebe ist für Luhmann kein Gefühl, sondern ein symbolischer Code.
Warum wissen Jugendliche, die sich zum ersten Mal verlieben, dass diese Begierde, die Unruhe und die Fixierung der Gedanken als Liebe zu interpretieren ist? Weil sie es aus Filmen, aus Büchern und von Gesprächen wissen - aus Kommunikation. Vor kurzem ist das Buch "Liebe, eine Übung" im Suhrkamp Verlag neu aufgelegt worden.
Niklas Luhmann hat übrigens trotz zahlreicher Rufe an andere Universitäten Bielefeld nie verlassen. Es wäre ihm zu riskant gewesen, seinen Zettelkasten zu übersiedeln. Auf die Frage, welche Kritiker er am meisten fürchte, sagte er einmal: "Die Dummen".
Mehr zu Niklas Luhmanns Zettelkasten in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 5. NOvember 2008, 21:01 Uhr
Buch-Tipps
Niklas Luhmann, "Die Realität der Masenmedien", VS Verlag für Sozialwissenschaften
Niklas Luhmann, "Liebe. Eine Übung", Suhrkamp Verlag
Niklas Luhmann, "Liebe als Passion", Suhrkamp Verlag
Margot Berghaus, "Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie ",Böhlau Verlag
Dirk Baecker, "Wozu Gesellschaft?", Kadmos Verlag