Die Leichtigkeit des Kinderlebens

O'Bär an Enkel Samuel

Ein alternder Autor, der an einer Schreibhemmung leidet, findet durch seinen Enkel Samuel zur Sprache zurück. Die Handlung von Peter Härtlings Roman lässt sich bequem in einem Satz zusammenfassen, aber Härtling macht daraus etwas ganz Besonderes.

Das Kind! Sein fünfter Enkel. Warum war er ihm von Anfang an so verfallen? Vielleicht nahm ihn die Unruhe des Kindes gefangen, seine Neugier, seine Lust, Spiele zu erfinden und Wörter. Samuel bewegte sich am Rand der Sprache, der Sinn der Wörter hatte sich ihm noch nicht erschlossen. Manchmal aber begann ein Wort zu leuchten, zu glühen, es sagte ihm etwas, und er konnte etwas mit ihm sagen. Das tat er auch. Immer wieder. Dazu erfand er Wörter. Der Frosch aus dem Bilderbuch oder unser Frosch vom Teichrand nahm für ihn als "Ochochoch" Gestalt an; er weitete das Wort, indem drei Vokale von drei Konsonanten eingeklemmt wurden. Mit den Wörtern erfasste er Wirklichkeit. Mit Wörtern fing er an zu denken. Mein Anfänger, sagte Weber, und ihm wurde klar, womit der Kleine Herr überhaupt anfange: mit der ganzen Welt. Und er sagte: Himmel, was traue ich dem Kerlchen zu!

Ein alternder Journalist und Buchautor, der an einer Schreibhemmung leidet, findet durch seinen Enkel Samuel zur Sprache zurück: Die Handlung von Peter Härtlings Roman "O'Bär an Enkel Samuel" lässt sich bequem in einem Satz zusammenfassen, aber Härtling macht daraus etwas ganz Besonderes, nämlich ein Buch, in dem Kindheit und Alter einander gegenübergestellt werden. "Sie sind verwandt in ihrer Beengtheit, die Kinder können das nicht machen, was die Großen tun und die Alten können es auch mitunter nicht mehr. Sie sind aber auch verwandt in ihrem Leichtsinn. (...) Dieser gemeinsame Leichtsinn, dieses leichtsinnige Spielen-wollen, nähert Alte und Kinder an", meint Härtling.

Brüchige Wörter wieder gekittet

Zunächst war das Büchlein für den Autor vor allem ein Mittel, seine eigene Schreibhemmung zu überwinden, denn Härtling hatte nach einem Krankenhausaufenthalt das Gefühl, die Wörter verloren zu haben, den Instinkt für Sätze, für den Rhythmus und den Klang der Sprache.

"Wenn man 57 Jahre schreibt, dann werden die Wörter brüchig, und die Bedeutung von Sätzen fragwürdig. Das Eigentümliche ist, dass Sie eigentlich nicht gehemmt sind, sondern dass Sie sich durch Zweifel, durch Abfragen, durch Unsicherheiten selber hemmen. Es wird Ihnen gelingen, es ist mir auch gelungen, unglaublich genaue, klare, erzählende Sätze zu schreiben. Der Moment des Lesens im Nachhinein, der ist das Furchtbare", meint Härtling.

Erst ein Besuch des kleinen Samuel löste die Verkrampfung. Gemeinsam mit dem Enkel entdeckte der Großvater die Wörter aufs Neue, wurde wieder mit ihnen vertraut: "Ich entdeckte ein Menschenkind, das mit der Sprache arbeitete, das Wörter erfand wie 'probrieren' oder 'alleinde', der mit seiner Neugier mich nicht nur fesselte sondern auch öffnete. Und dieses Gespräch mit dem Kind ging mir enorm nahe."

Vom Würfel zum Spitznamen

Härtlings Alter Ego in seinem Roman heißt Peter Weber, ein alternder Journalist und fünffacher Großvater, der plötzlich nicht mehr schreiben kann. Er versucht, die verlorenen Wörter auf Reisen wiederzufinden, aber erst Samuel kann Weber den Zugang zur Sprache neu erschließen. Für Samuel erfindet Weber Geschichten, etwa ein Märchen von einem Mann, der nur mit einem Wort auskommt, er redet mit imaginären alten Freunden, denkt an seine eigene Kindheit zurück und tastet sich so Schritt für Schritt wieder zu seiner Phantasie vor. Dabei arbeitet sich Härtling eng an den tatsächlichen Begebenheiten entlang, bis hin zum Spitznamen, den der Enkel für den Großvater erfindet: O'Bär.

"Als er uns eines Tages besuchte, da kam die Taufe zustande, mit Hilfe eines ganz scheußlichen Spielzeugs", erzählt Härtling. "Das ist ein Würfel, auf dessen Seiten Tiere abgebildet sind - ein Schaf, ein Esel, und unter anderem auch ein Bär. Und wenn der Würfel auf die Schafseite fällt, macht es 'mähh', wenn es auf die Esel-Seite fällt, macht es 'iahhh, iahh'. Und beim Bären habe ich gedacht, der brummt. Das tat er aber nicht, sondern eine tiefe Männerstimme sagte 'Ich bin der Bär'. Und das fand ich so albern, dass es mich reizte. Als ich dann ins Zimmer reinkam, rief ich 'Ich bin der Bär'. Und als ich wieder ins Zimmer reinkam, später, sagte er: 'Da kommt der Bär'. Und meine Frau sagte zu ihm: 'Ja, wenn schon, dann ist es der Opa-Bär'. Und da sagte er zwei, dreimal Opa-Bär und klug und faul wie er ist kürzte er das ab und schickte mich sozusagen in den schottischen Bärenclan, indem er sagte 'O'Bär', und das bin ich bis heute."

Kindliche Wortschöpfungen

Überhaupt ist Härtlings Roman so etwas wie eine Hommage an die kindliche Sprache. Die Wortschöpfungen des Enkels werden für Weber zu einer Brücke, die ihn selbst zur Sprache zurückführt, und gerade diese Wortschöpfungen haben auch Peter Härtling entzückt: "In einer Auseinandersetzung mit einem seiner Freunde, als der ein Bobby-Car hatte, wollte er den haben, und stellte sich vor den und schrie: 'Probrieren!'", erinnert sich Härtling. "Das war ein druckvolles Probieren, das war wie ein Bohrer und das war ein Wort, das seine Bedeutung steigerte in einem Maße, dass ich nur staunen konnte. (...) Und so haben wir voneinander gelernt."

In diesem Voneinander-Lernen geht es freilich nicht nur um Wörter. Weber lernt auch, sich die kindliche Welt zu erschließen, ihre Vorurteilslosigkeit zu erkennen und die Freude an den Anfängen wieder zu entdecken, "denn ein Kind fängt alles an. Und das alles voraussetzungslos", so Härtling. "Es fängt Liebe an, es fängt zu schwimmen an, es fängt zu lesen an. All diese Anfänge, diese einzigartigen Anfänge haben wir nicht mehr. Wir wiederholen sie uns selbst und begreifen, dass wir im Wiederholen ständig vergleichen. Und dies von Kindern zu lernen, etwas ganz voraussetzungslos zu tun, das ist etwas unglaublich Schönes."

All das steckt zwischen den Zeilen des charmanten Büchleins. Heiter und frisch ist die Lektüre, liebenswert von der ersten bis zur letzten Zeile, dabei gleichzeitig klug und scharfsichtig.

Ein wunderbares Geschenk

In einem Gartenhäuschen gelingt es Weber, wieder zum Schreiben zu finden, und hier löst Härtling seine Fiktion behutsam auf, indem er nach einem Gespräch mit Samuel die Tür schließt und den Weber drinnen lässt. "O'Bär an Enkel Samuel" ist in mehrfacher Hinsicht ein Geschenk des Autors: Ein wunderbares Geschenk an seine Leser zu seinem bevorstehenden 75. Geburtstag, ein Geschenk an seinen Enkel Samuel und nicht zuletzt ein Geschenk Härtlings an sich selbst - ganz unabhängig von seinem Geburtstag: "Ich habe es mir geschenkt, um wieder arbeiten zu können, um über eine Schwelle hinwegzukommen. Und das ist nicht die Jahrzehnteschwelle, sondern es ist eine Schwelle, die mit mir, mit meiner Tätigkeit, einer sehr einsamen Tätigkeit zu tun hat, die ich leise ordnen wollte."

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 9. November 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Peter Härtling, "O'Bär an Enkel Samuel. Eine Erzählung mit fünf Briefen”, Kiepenheuer & Witsch

Link
Kiepenheuer & Witsch - Peter Härtling