Viel Lärm mit Nichts

Skiffle

1956 nahm der Schotte Lonnie Donegan den uralten Südstaaten-Bluessong "Rock Island Line" neu auf. Die Single wurde zum Welthit. Und zehntausende Jugendliche kamen plötzlich auf die Idee, sich eine Gitarre zuzulegen und Skiffle zu spielen.

Lonnie Donegan, "Rock Island Line"

1847 wurde die amerikanische Eisenbahngesellschaft "Chicago, Rock Island and Pacific Railroad" mit Sitz in Chicago gegründet. Fünf Jahre später, am 10. Oktober 1852, befuhr der erste Zug die Strecke von Rock Island am Mississippi River nach La Salle.

Die Geschichte dieser Eisenbahngesellschaft, besser bekannt unter dem Namen "Rock Island Line", war von regelmäßigen finanziellen Pleiten gekennzeichnet. Nach mehreren Bankrotten wurde sie schließlich im Jahr 1980 endgültig eingestellt. Soviel zum Thema amerikanische Eisenbahngeschichte.

Schmetterling und Wirbelsturm

Der Vater der Chaostheorie, Edward Lorenz, behauptete, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Shanghai theoretisch einen Wirbelsturm in New York auslösen könnte. Aus meteorologischer Sicht ist das angeblich völliger Unsinn.

Doch metaphorisch kann dieses Bild sehr treffend auf die Musikgeschichte umgelegt werden. Es war nämlich tatsächlich eine höchst kuriose Verquickung von scheinbar bedeutungslosen Zufällen und Begegnungen in Amerika, die eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf den späteren Wirbelsturm der Rock- und Popmusik in England hatte.

Gefängnisblues

Zunächst einmal führt unser Weg in ein Gefängnis in Louisiana, in welchem der 1888 geborene Afroamerikaner Hudson William Ledbetter eine Haftstrafe wegen Mordversuchs absitzt. Dieser Mann, der sich "Leadbelly" nennt, ist ein begnadeter Blues-Musiker.

Die amerikanischen Haftanstalten waren schon immer wichtige Brutstätten des Blues und das weiß auch der Musik- und Folkloreforscher John Lomax, der Anfang der 1930er-Jahre verschiedene Gefängnisse in Louisiana besucht, um die Musik der Schwarzen zu erforschen und aufzunehmen.


Rock Island Line

In einem der Gefängnisse trifft John Lomax auch auf besagten Leadbelly, macht mit ihm einige Aufnahmen und bewirkt dessen vorzeitige Entlassung. Von singenden Gefangenen lernen die beiden die A-Capella-Version eines alten Traditionals kennen.

1937 wird dieser bislang nur mündlich überlieferte Song von Leadbelly instrumentiert und aufgenommen. "Rock Island Line" heißt das Stück, das von der gleichnamigen Eisenbahn erzählt.

Lonnie Donegan

Knappe 20 Jahre später in England: Der Schotte Lonnie Donegan spielt Banjo in der Jazzband von Chris Barber. Mit seinen Bandkollegen nimmt er 1956 eine Coverversion von "Rock Island Line" auf und landet damit einen Welthit.

Erstmals in der englischen Musikgeschichte werden drei Millionen Schallplatten eines Liedes verkauft, und sechs Jahre lang wird jede Single von Lonnie Donegan zum Top-Ten-Hit in England.

Viel Lärm mit Nichts

"Skiffle" nannte man diesen von Lonnie Donegan in England popularisierten Musikstil, der Blues, Dixieland, Country, Folk und Jazz miteinander verband und meist mit einem einfachen, oft selbst gebastelten Instrumentarium gespielt wurde.

Neben konventionellen Gitarren und Banjos gab es da vor allem das Waschbrett als Rhythmusinstrument oder den so genannten Washtub-Bass, den man selbst aus einem Waschtrog, einer Wäscheleine und einem Besenstiel basteln konnte. Dazu klappernde Löffel, scheppernde Topfdeckel oder tönende Mülltonnen. Man kann auch mit wenig Geld nach Herzenslust Krach machen.

Skiffle-Mania

Der Begriff "Skiffle" war damals nicht neu. Schon 1925 tauchte er im Bandnamen der ansonsten völlig unbekannten Gruppe "Jimmy O'Bryant and His Chicago Skifflers" auf. Doch durch Lonnie Donegans musikalische Erfolge wurde in England ein regelrechter Skiffle-Boom ausgelöst.

Der schottische Musiker war (neben Elvis Presley) der Hauptgrund, warum Ende der 50er-Jahre zehntausende pubertierende Jugendliche in England plötzlich auf die Idee kamen, sich eine Gitarre zuzulegen. Alle wollten Skiffle spielen.

Die Ursuppe der englischen Pop- und Rockmusik

Viele dieser jungen Burschen, die damals nach Lonnie Donegans Vorbild eine Skiffle-Band gründeten, sind uns heute bestens bekannt. Sie heißen John Lennon, Paul McCartney, George Harrison, Pete Townshend, Roger Daltrey, Van Morrison, Eric Clapton, Mick Jagger, Rod Stewart, Ronnie Wood, Jimmy Page...

Sie alle haben als Jugendliche begeistert Skiffle gespielt und damit den Grundstein für ihre musikalische Karriere gelegt. So gesehen ist Skiffle gewissermaßen die musikalische Ursuppe des englischen Rock und Pop. Nur Lonnie Donegan selbst ist dem von ihm mitinitiierten Genre bis zu seinem Tod im Jahr 2002 stets treu geblieben und als "King of Skiffle" in die Geschichte eingegangen.

Der Biologe Jimmy Page

Womit wir wieder bei der Theorie vom Schmetterling und vom Wirbelsturm sind, denn wie würde die Welt heute wohl aussehen, wenn die Amerikaner nicht vor 160 Jahren eine Eisenbahnlinie namens "Rock Island Line" gebaut hätten, wenn ein Blues-Sänger namens Leadbelly nicht wegen versuchten Mordes inhaftiert worden wäre, oder wenn ein Schotte namens Lonnie Donegan nicht auf die Idee gekommen wäre, ein altes Südstaaten-Traditional zu covern?

Vielleicht hätte dann ein junger Bursche namens James Page tatsächlich nach der Schule - so wie er es ursprünglich auch vorgehabt hatte - Biologie studiert. Und wer weiß, was all die anderen Jungs gemacht hätten...

Hör-Tipp
Spielräume, Sonntag, 16. November 2008, 17:30 Uhr

Link
Lonnie Donegan