In der Unterwelt

Am Rand

Es ist eine Welt voller Ängste, Traumata und Grausamkeiten, die Sebnem Isigüzel in ihrem Roman porträtiert, eine Welt voller Hass, Unterdrückung und Gewalt, die die Autorin nicht müde wird, in dunkelsten Farben und kruden Szenen zu zeigen.

Sie lebt im Unrat von Istanbul, umgeben von Abfall, von Ratten und Möwen und Mäusedornbüschen: Leyla, "die Königin der Müllhalde". Eine Frau mit verschorfter Haut und abgerissenem Ohr, die herumstreunenden Straßenjungen die Brust gibt. Sie ist nicht die einzige Bewohnerin der Deponie, außer Leyla leben hier noch gut ein Dutzend anderer Figuren, Figuren mit seltsamen Namen: Da ist "Dolch", der Chirurg und Heidegger-Bewunderer, "Fehmi", der seine Familie bei einem Flugzeugabsturz verlor, "Tourist", ein Tscheche, der nicht mehr zurückkehren darf, oder "Lindwurm", der Mann der seinen Namen vergaß. Und da ist "Vollstrecker", ein Mann, den Leyla an ihrem 40. Geburtstag bewusstlos und abgemagert auf der Müllhalde fand und als ihr Geburtstagsgeschenk betrachtete.

"Wir sind Heilige, wir sind Philosophen, wir sind Seelen voller Demut", weiß "Dolch", der Chirurg. Die seltsamste dieser Seelen aber ist Leyla. Aus "Gedächtnismüll" und "Erinnerungsabfall" schält sich nach und nach die "Geschichte ihres Ruins".

Leylas erstes Leben

Leyla lebte die ersten 25 Jahre ein wenn nicht gewöhnliches, so doch bürgerliches Leben. Geboren 1963 in Istanbul, zog sie mit sechs nach Moskau, wo der Vater Beamter der türkischen Botschaft wurde. Schon früh zeigte sich Leyla als Schach-Genie, sie bot Karpow Paroli, Kasparow und Boris Spasski. Dann verunglückten die Eltern bei einem Verkehrsunfall - kurz nachdem bekannt wurde, dass ihr Vater für den CIA gearbeitet hatte. Leyla geriet in die Fänge des KGB, wurde in die Türkei ausgewiesen, verhört und misshandelt.

In Istanbul heiratete sie schließlich den alkoholsüchtigen Sohn eines pensionierten Generals, eines "ehrgeizig an seiner politischen Karriere bastelnden" Hardliners und Faschisten, den sein Sohn einen "Lebensvertilger" nannte. Der Schwiegervater verlangte von Leyla, das Schachspiel aufzugeben, das er ein "Kommunistenspiel" nannte. Sie bespuckte ihn - und landete auf der Straße. Hier endet Leylas erstes Leben.

Das "Rätsel" Yildiz

Um Erinnerungsarbeit geht es auch in der zweiten Geschichte, die der Roman erzählt: Yildiz ist eine Musik-Professorin in Istanbul, die eines Tages ihren Job an den Nagel hängt, um eine Biografie zu schreiben, die Biografie eines ebenso berühmten wie berüchtigten Dirigenten. Esref Sefik Karacan - so sein Name - war "auf die Welt gekommen, um Böses zu tun und Orchester zu dirigieren." Karacan, Dirigent der Berliner Symphoniker, ist ein Genie und Despot - und ein Macho. Er trifft sich mit Yildiz, vergewaltigt sie und witzelt, "jetzt haben wir eine Blitzpartie gespielt!"

Wie Leyla so blickt auch Yildiz auf ein zerrüttetes Familienleben zurück: den Vater hatte sie nie kennengelernt, die Mutter drohte permanent mit Strafen, die Ehe mit einem japanischen Entomologen, einem der "angesehensten Käfersammler der Welt", ging schnell in die Binsen.

Wurde Leyla als "eine Weltvergessene", "ein bizarres Wesen" beschrieben, so wird Yildiz "ein Rätsel", "eine Wahnsinnige" genannt. Ihr größtes Trauma ist die Mutter, ihre Strafen fürchtet sie auch dann noch, als sie längst tot ist. Als Yildiz Ipek begegnet, die ebenfalls über den Dirigenten zu schreiben beabsichtigt, gerät sie in Panik. Sie sieht ihr Selbsthilfeprojekt in Gefahr. Um das Karacan-Buch von Ipek zu verhindern, entführt Yildiz deren Sohn.

Blut und Gewalt

Es ist eine Welt voller Ängste, Traumata und Grausamkeiten, die Sebnem Isigüzel in ihrem aus zwei im Grunde selbstständigen Geschichten bestehenden Roman porträtiert, eine Welt voller Hass, Unterdrückung und Gewalt, die die Autorin nicht müde wird in dunkelsten Farben und kruden Szenen zu zeigen, und verantwortlich dafür sind vor allem die Männer.

Als Leyla, das Schach-As auf der Mülldeponie, schwanger geworden war und Dolch "einen Thronfolger" gebären sollte, drückte sie "wie einen Furz ihren Prinzen heraus, der einer schwarzen Traube Wein glich". Dem toten Säugling wurden sogleich bis auf Herz und Augen alle Organe entnommen, den Bauch nähte man ihm in Hakenkreuzform wieder zu, während man den "wie ein weiches Ei an einem fröhlichen Frühstückstisch mit einem Messer in zwei Hälften geteilten Schädel" mit Mullbinden umwickelte, die "voller fast schwarzer Blutflecken waren".

Türkische Geschichte

"Mit diesem Roman möchte ich Kritik an der Macht üben", sagt Isigüzel, "denn Faschismus und Machtgier zerstören die Werte, die wir Menschen in einem langen Prozess verinnerlicht haben." Diese Machtkritik ist freilich eher plakativ als differenziert. Die 1973 geborene studierte Anthropologin, die einige Jahre als Journalistin arbeitete und in der Türkei mit zwei mehrfach ausgezeichneten Erzählbänden bekannt wurde, will den Einfluss untersuchen, den Familie und Gesellschaft auf das Individuum ausüben, aber auch das Verhältnis der Türken zu Gewalt und Geschichte.

"Ich möchte, dass die Türkei sich ihren Schandtaten stellt, ich möchte, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt", sagt sie. "Zurzeit sitzt die Türkei auf einem Müllberg. (...) Man muss eine Erklärung für die vergangenen Ereignisse und für die bis heute gültige Putsch-Verfassung abgeben. Bedauerlicherweise hat das die Türkei bisher nicht geleistet. Armenier oder Kurde zu sein gilt heute noch immer als Beleidigung oder als etwas, für das man sich schämen muss. Es gibt da schwerwiegende Ungerechtigkeiten!"

"Am Rand" ist keine realistische Bestandsaufnahme der heutigen Türkei, keine an Psychologie interessierte Frauen-Doppel-Biografie. Er ist ein Konstrukt: aus Schach-Vergleichen und Müll-Metaphorik, literarischen Referenzen und mythologischer Aufblähung, pointierten Sentenzen und penetranten Leser-Anreden, aus Zitaten, Anspielungen, Illusionsbrüchen und Surrealem... Ein ebenso ambitionierter wie maßloser Roman, der freilich wegen des Hangs zum allzu Grellen und der permanenten Volten der Erzählerin nicht wirklich unter die Haut geht.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Sebnem Isigüzel, "Am Rand", aus dem Türkischen übersetzt von Christoph K. Neumann, Berlin Verlag

Link
Berlin Verlag - Sebnem Isigüzel