Anti-Racket wehrt sich
Gemeinsam sind wir stark
Angeblich zahlen 80 bis 90 Prozent aller Geschäftsleute in Neapel Pizzo, also Schutzgeld. Dass man sich gegen die Camorra wehren kann, beweist Silvana Fucito mit ihrer Organisation "Anti-Racket", einer Kaufleutevereinigung gegen Schutzgeldzahlung.
8. April 2017, 21:58
Ein großes, gutbürgerliches Gasthaus im Zentrum Neapels. Acht Uhr abends, fast alle Tische sind besetzt. Zwei Kellner, die offenbar gerade nichts zu tun haben, stehen in der Nähe meines Tisches, unterhalten sich leise, dann höre ich einen von ihnen sagen: Ah, die Herrschaften kommen.
Ein Blick zum Eingang: Zwei jüngere Männer in Jeans und Lederjacken, jeder einen Motorradhelm in der Hand, betreten das Lokal, gehen schnurstracks zwischen den Tischen hindurch in den hintersten Bereich des Restaurants, wo die Chefin an einem kleinen Schreibtisch die Rechnungen für die Ober schreibt, das Geld der Gäste entgegennimmt und Retourgeld herausgibt. Die Frau hat die beiden Männer offenbar schon erwartet. Wortlos öffnet sie eine Schreibtischlade, nimmt einen dicken Packen Banknoten heraus, gibt ihn einem der Männer. Der faltet ihn zusammen, schiebt ihn in die Tasche seiner Jeans. Buona sera. Die Männer verlassen das Lokal. Ultimo ist heute, der letzte Tag des Monats.
Was ich beobachtet habe, ist die Übergabe eines Pizzo, eines Schutzgeldes. Nach Schätzungen von Handelsverband und Polizei zahlen 80 bis 90 Prozent der Unternehmer und Geschäftsinhaber in Neapel ihren Pizzo an die Camorra. Dafür ist die Steuermoral gering.
Farbenhandlung in Flammen
Aber so einfach ist es wieder auch nicht. Man kann sich wehren und die Polizei hilft einem dabei. Das weiß man, seit am 19. September 2002 die Farben- und Lackhandlung der Silvana Fucito in Flammen aufging, draußen, an der östlichen Peripherie der Stadt, in San Giovanni a Teduccio.
Die Farben- und Lackhändlerin Silvana Fucito aus dem verrufenen Vorort San Giovanni ist nicht einmal einen Meter fünfzig groß. Blond, großbusig, hochhackig, um die 50, kettenrauchend. Eine starke kleine Frau, die sich mit der Camorra anlegte: "Vor dem Brand kamen sie und verlangten kleine Gefälligkeiten. Aber wenn du bereit bist, ein bisschen zu geben, wissen sie, zu bist auch bereit zu zahlen, und sie verlangen immer mehr. Auch von mir wollten sie anfangs nur wenig. Lohnt es sich, mit denen Streit zu haben wegen einem Kilo Farbe? Das lohnt sich nicht."
Nichts zu holen
Zuerst dachte Fucito, sie könne allein mit den Schutzgeld-Erpressern verhandeln, ohne die Polizei einzuschalten. Es war der Camorra-Clan der Aprea, der die Geschäftsfrau unter Druck setzen wollte, dessen Abgesandte im Laden zur Einschüchterung ihre Pistolen zeigten.
"Als sie sahen, dass sie von mir nicht einmal mehr ein halbes Kilo Farbe kriegen können, mussten sie auch einen Standpunkt einnehmen", sagt Fucito. "Also: mich bestrafen, mir den Laden anzünden. Die haben gar nicht verstanden, was sie da machen, das war ihnen zu hoch: Nachdem alles abgebrannt war, konnten sie ja von mir gar keine Geld mehr kriegen." Denn versichert war der Laden nicht. "Sie kriegen doch in Neapel keine Versicherung gegen Brandanschläge", sagt Silvana Fucito.
Ihr Geschäft war im Erdgeschoß eines siebenstöckigen Wohnhauses, 20 Familien mussten damals evakuiert werden. "Statt Angst zu erzeugen haben die Camorristen Widerstand erzeugt, genau das Gegenteil, die Leute waren jetzt gegen sie."
Zwölf Jahre Haft
Und nun geschieht das Unerhörte: Statt - wie es in Neapel üblich wäre - zu sagen, sie habe keine Ahnung, wie das passiert sein könnte, zeigt Silvana Fucito die Brandstifter und ihre Komplizen an, 15 Männer. Das Verfahren dauerte bis 2006. Alle 15 Angeklagten wurden am Schluss zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Und die Fucito gründete "Anti-Racket", eine Kaufleutevereinigung gegen Schutzgeldzahlung.
"Natürlich haben wir die Camorra nicht zerstört, nicht annähernd", meint Fucito, "aber wir haben eine Möglichkeit aufgezeigt. Als sie Angst hatten, haben die Leute keine Anzeigen erstattet, heute tun sie es. Die Untertänigkeit gegenüber der Camorra bricht man mit Anzeigen auf."
Die Angst überwinden
Der italienische Staatspräsident adelte Silvana Fucito zur Ritterin der Arbeit, die US-Zeitschrift "Time" ernannte sie zur europäischen Heldin des Jahres. Sie ging in San Giovanni von Laden zu Laden, von Betrieb zu Betrieb, um Mitstreiter zu finden. Doch die meisten sagten ihr: Wir zahlen doch ohnehin nichts, denn wer zahlt, der schämt sich dafür und schweigt.
So ist Silvana Fucitos streitbare Kaufleutevereinigung bis jetzt überschaubar geblieben: "Auf tausend, die zahlen, kommen von uns zehn oder fünfzehn." Dabei zeigen die bisherigen Beispiele der Schutzgeld-Verweigerer, dass man den Widerstand überlebt: "Das haben wir bewiesen: Alle, die Anzeigen erstattet, den Schritt in die Legalität getan haben, sind dabei geblieben. Und keinem ist etwas passiert."
Es gelte nur, die Angst vor der Camorra zu überwinden, sagt Silvana Fucito und zündet sich noch eine Zigarette an: "Unsere Angst gibt ihnen die Macht, denn wenn alle sagen, wir fürchten uns, dann fühlen sie sich übermächtig."
Zunehmende Arbeitslosigkeit
San Giovanni a Teduccio, im Südosten des Zentrums an der Küste gelegen, war ein traditioneller Arbeiter-Vorort Neapels, einst ein Stimmenreservoir für die Linksparteien. Fabriken und Wohnbauten durchmischt, Hafenanlagen, Autobahnbrücken, besprayte Vorortezüge.
Nahe der Vorortelinie Circumvesuviana steht die Ruine einer ehemaligen Konservenfabrik. Die gehört jetzt einer Hilfsorganisation namens "Figli in famiglia", die sich um Kinder und Jugendliche kümmert. Etwa um straffällig gewordene Jugendliche. "Figli in famiglia" bemüht sich darum, dass die nicht gleich ins Gefängnis kommen, sondern auf Bewährung in der Familie bleiben können. Oder Kinder aus desolaten Familien, sie werden hier tagsüber betreut. Organisiert wird das alles von einer kleinen kugelrunden Frau namens Carmela Manco.
"Dieses Gelände renovieren wir, das sind 4.000 Quadratmeter, wir haben schon ein Gymnastikstudio eingerichtet und einige Werkstätten. 250, großteils freiwillige, Helfer sind hier stunden- oder tageweise im Einsatz. Ein Spielplatz soll hier noch entstehen, eine Bar, Lehrsäle, weitere Werkstätten. "Hier können die Jugendlichen einen Beruf für sich entdecken. Sonst wären sie verloren."
Finanziert wird das alles mit freiwilligen Spenden und einem Kredit der Banca Etica, einer Bank, die die Anlagen ihrer Sparer nur in sozialökonomische Initiativen investiert. Immerhin 750.000 Euro beträgt hier die Kreditsumme, das war natürlich auch für die Camorra von Interesse. "Stellen Sie sich vor, sind die sogar zu uns gekommen und wollten den Pizzo. Wir haben sie angezeigt und sie sind ins Gefängnis gekommen. Jetzt wissen sie: Hier wird nicht bezahlt."
Hilfe von der Polizei
Es ist also nicht so, dass der Staat dem einzelnen Bürger nicht helfen würde, wenn er versucht, sich gegen die Camorra zur Wehr zu setzen. Kaum hatte Carmela Manco auf die Schutzgeld-Erpresser reagiert und Anzeige erstattet, wurde die Polizei aktiv.
"Am nächsten Tag sind die Polizisten auf der Baustelle erschienen, verkleidet als Arbeiter, und haben hier mitgearbeitet. Als diese Herren wieder gekommen sind, um sich das Geld abzuholen, haben die Polizisten sie sich geschnappt und verhaftet. Die haben zwischen acht und zwölf Jahren Haft bekommen."