Geliebte Wahlheimat

Ein Wiener aus Hamburg

Wiens Rang als Musikstadt lässt sich weniger durch die Zahl von Musikern dokumentieren, die hier geboren wurden, sondern besser durch die vielen sogenannten "Zuagrasten", die sich hier angesiedelt haben. Der Assimilierteste war wohl Johannes Brahms.

Als musikalische Wahlheimat ist die Donaumetropole stets sehr beliebt gewesen. Und der wahrscheinlich Assimilierteste unter den prominenten Wahlwienern der Musikgeschichte stammt aus Hamburg: Johannes Brahms. Er ist ein wichtiger Zeuge dafür, dass man hier den optimalen Humus für musikalisch-kreative Tätigkeit vorfindet.

Immerhin verbrachte er die letzten 35 Jahres seines Lebens in Wien, war ein Bewunderer von Johann Strauß, auch ein leidenschaftlicher Schubert-Verehrer und - er schieb Walzer.

Hanslicks Würdigung

"Brahms und Walzer! Die beiden Worte sehen einander auf dem zierlichen Titelblatt förmlich erstaunt an. Der ernste, schweigsame Brahms, der echte Jünger Schumann, norddeutsch, protestantisch und unweltlich wie dieser, schreibt Walzer? Ein Wort nun löst das Rätsel, es heißt Wien. Die Kaiserstadt hat Beethoven zwar nicht zum Tanzen, aber doch zum Tänzeschreiben gebracht, Schumann zu einem 'Faschingsschwank' verleitet, sie hätte vielleicht Bach selber in eine ländlerische Todsünde verstrickt. Auch die Walzer von Brahms sind eine Frucht seines Wiener Aufenthalts, und wahrlich von der süßesten Art. Nicht umsonst hat dieser feine Organismus sich Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft Österreichs ausgesetzt - seine Walzer wissen nachträglich davon zu erzählen", schrieb Eduard Hanslick.

Liebeslieder

Vergisst man einmal den Symphoniker und Klaviervirtuosen Brahms, so merkt man, dass er als Wahlwiener ganz in der Tradition des bürgerlichen musikalischen Salons steht. Hausmusik hat ihm viel bedeutet. Dafür spricht nicht nur seine Liebe zur Kammermusik im Allgemeinen, sondern zur Tradition des vierhändigen Klavierspiels.

Die "Liebesliederwalzer" op.52 sind unter der Nummer 52a für Klavier zu vier Händen erschienen und auch die ersten Walzerzyklen von Johannes Brahms, sein Opus 39, gehören in ihrer Urform zur vierhändigen Klaviermusik. Brahms hat sie erst nachträglich für den Sologebrauch eines einzelnen Pianisten transkribiert.

Der großen Resonanz wegen hat er später einen zweiten Zyklus, die "Neuen Liebeslieder" als sein Opus 65 nachgeliefert, und als "Walzer für vier Singstimmen und Pianoforte zu vier Händen" ohne die Verwendung des missverständlichen "für Gesang ad libitum".

Walzerseligkeit

Mit den Worten "leider nicht von mir" hat Brahms die ersten Noten des Donauwalzers auf einer Widmung kommentiert, und - wie einst Schubert - hat auch Brahms Tanzmusik oft selbst am Klavier gespielt. Als er eines Abends in ein Wirtshaus kam, das er öfters besuchte, fand er den Saal für einen Ball einer beliebten Wiener Lokalsängerin hergerichtet und wollte schon wieder gehen. Da lief ihm der Wirt nach und sagte, das Fräulein habe eigens angeordnet, dass sein gewohnter Tisch respektiert werde. Als sich dann später das Missgeschick ergab, dass der bestellte Klavierspieler krank geworden war, bedankte sich Brahms umgehend indem er sich an den Flügel setzte und bereitwillig so viele Galoppe, Polkas und Walzer zum besten gab, wie von ihm verlangt wurden.

Ungarische Tänze

Doch trotz wienerischer Walzerseligkeit im Oeuvre des Hamburger Meisters, wollen wir nicht vergessen, dass die Monarchie, in die sich Brahms eingebürgert hat ja eine österreichisch-ungarische gewesen ist.

Bei dem großen Interesse, das Brahms allem Folkloristischen entgegenbrachte, war es eine logische Folge, dass er auch ungarische Tänze auf seine Weise für Hausmusik und Konzertpodien aufbereitet hat.

Folkloristisches Reservoir
Die verwendeten Melodien stammen nicht aus originalen Volksliedquellen im Sinne Bartoks, sondern aus dem folkloristischen Reservoir der Sinti und Roma. Brahms hat sie zum Teil dem Violinvirtuosen Eduard Reményi abgelauscht, mit dem er seit 1852 mehrere erfolgreiche Tourneen unternommen hatte. Der Ungar Reményi hatte seinen größten Erfolg mit dem "phantastischen Vortrag heimatlicher Tänze" mit dem das Duo Brahms-Reményi die Veranstaltungen meist abschloss.

Die meisten der von Brahms herausgegebenen ersten zehn Tänze stehen in einem vorwiegend synkopenreichen 2/4-Takt, haben schnelles Tempo, das gelegentlich zu träumerischen Episoden verlangsamt, oder gar durch plötzliche Fermaten gestoppt wird, was Brahms aber später durch rasante Beschleunigungen wieder ausgleicht.

Große Popularität
Diese beiden Hefte "Ungarischer Tänze" für Klavier vierhändig, die 1869 bei Simrock erschienen waren, erreichten in kurzer Zeit eine so große Popularität, dass der Verleger dem Komponisten ständig mit der Bitte in den Ohren lag, sie doch für Orchester zu bearbeiten. Erst nach langem Sträuben gab Brahms nach, instrumentierte aber nur drei Tänze selbst.

Und last but not least hat Brahms auch mit diesem ungarischen Melodiengut Heimatrecht in den internationalen Konzertsälen erworben, so hat er für viele deutsche Volkslieder ähnliches erreicht, indem er sie für Gesang und Klavier setzte. Die - ebenfalls existierenden - chorischen Volksliedbearbeitungen sind international nie so bekannt geworden, wie die solistischen, die immer wieder im Repertoire berühmter Liedsänger zu finden sind.

Hör-Tipp
Musikgalerie, Montag, 1. Dezember 2008, 10:05 Uhr