Anya Ulinichs große Reise
Kulturschock überstanden
Es ist die klassische Einwanderer-Erfolgsstory: Anya Ulinich, ehrgeizige Malerin, kommt mit siebzehn in die USA, ohne Geld, mit zwanzig Worten Englisch. Siebzehn Jahre später gilt sie als literarischer Newcomer des Jahres 2007.
8. April 2017, 21:58
"Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg" heißt Anya Ulinichs erster Roman. Als er 2007 in den USA erschien, wurde er von der Kritik nahezu hymnisch gefeiert und wurde als einer der besten Romanerstlinge junger Autoren mit dem "5 under 35"-Award der National Book Foundation ausgezeichnet. Dabei war Schreiben für Anya Ulinich bloß eine Verlegenheitslösung.
Eigentlich ist Anya Ulinich Malerin, sie hat ein Leben lang darauf hingearbeitet Vier Jahre war sie alt, als ihre Eltern sie in eine Zeichenschule am Rand von Moskau geschickt hatten. Zehn Jahre später war sie alt genug, um eine richtige Kunstschule zu besuchen, die Serov Kunstschule für Kinder. Als sie dann in den USA war, hat sie das Studium abgeschlossen, aber sie war nicht zufrieden. Denn sie erkannte bald, dass sie mit ihrem Rüstzeug der US-amerikanischen Kunstszene nicht gewachsen war. Nur ihr Mann glaubte an sie und ihr Talent. Er bestand darauf, dass sie sich in New York ansiedelten, er trieb sie an, in Galerien vorzusprechen, er tröstete sie, als die Ablehnungen kamen.
Schreiben im Coffee-Shop
Damals wurde für Anya Ulinich zur Gewissheit, dass die Malerei nicht das richtige Medium für sie wäre. Zwar half ihr das Arbeiten mit Pinsel, Farben und Leinwand wunderbar, die Geschichten, die in ihrem Kopf herumschwirrten, zu vertreiben, aber genau das, fühlte sie, war nicht mehr richtig, seit sie in den USA lebte. Ihre russische Seite wollte Geschichten erzählen, und so packte sie, sobald ihr Mann am Abend nach Hause kam und daher das Kind nicht alleine war, den Laptop und verzog sich in einen Coffee-Shop, um dort zu schreiben.
In der ur-amerikanischesten Umgebung, die es gibt, erzählte sie aus Russland. Sie schrieb ihre Erinnerungen an Moskau, an Schulkollegen, an Lehrer. Sie findet Sprüche wieder, die in ihrer Bekanntschaft kursierten, zum Beispiel: "Kinder der Intelligentsija kommen nicht einfach nach Hause und frönen der Idiotie". Oder "Ein Ehemann ist kein Luxusgut, sondern ein Transportmittel." Sie zeichnete das Porträt einer Jüdin, Ljubow Goldberg, die es als Angehöriger der "Intelligentsia" nach Asbest 2, das elende Nest im hinterletzten Winkel der alten Sowjetunion, verschlagen hat. Sie erzählt von Viktor, dem "Festival-Kind", der es ebenfalls in Asbest 2 gelandet ist und zu Ljubov zieht, mit ihr eine Tochter zeugt und sich irgendwann aus dem Staub macht. Und sie erfindet Sascha Goldberg, die Tochter eines "Festival-Kinds".
Sexuelle Revolution
Die Festival-Kinder? Sie waren Resultat einer kleinen sexuellen Revolution, die mit den 6. Weltfestspielen der Jugend und Studierenden, die 1957 in Moskau stattfanden, ausbrach. Man begriff: Die finsteren Zeiten unter Stalin waren vorbei, die Sowjetunion hatte mit dem Sputnik ihre Überlegenheit manifestiert, und Jugendliche aus aller Welt, 131 Staaten, vor allem aus den Bruderstaaten, waren nach Moskau gekommen.
Es war das erste Mal seit Unzeiten, dass ganz normale Menschen in Kontakt mit Ausländern kamen. Plötzlich war Aufbruchsstimmung im Land: es gab Blue Jeans, abstakte Gemälde, Federball – und die Festival-Kinder. 1973, als Anya Ulinich geboren wurde, lag neben ihrer Mutter eine junge Frau, die eben ein schwarzes Baby zur Welt gebracht hatte – Resultat der nach den Weltfestspielen erfolgten Öffnung der Universitäten für Studenten aus den Bruderstaaten. Das Baby wurde, wie viele seiner Leidensgenossen vor ihm, in ein Waisenhaus abgeschoben. Viktor, der Vater von Sascha Goldberg in Anya Ulinichs Roman, hatte Glück, denn er wurde von einem hochrangigen Genossen adoptiert.
Kein autobiographischer Roman
"Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg" ist kein autobiographischer Roman. Aber er ist aus einer genauen Kenntnis Russlands geschrieben worden. Und aus einer sehr genauen Kenntnis der Verhältnisse, in die Einwanderer in den USA kommen.
Die wohlmeinenden Reichen, die sich um ihre gestrandeten Landsleute kümmern. Die Englischkurse. Die Hilfsjobs. Und die Cleverness der überleben Wollenden. Oder denken Sie, dass Anya Ulinich die Putzfrau erfunden hat, die nach Prinzipen des Feng Shui die Wohnungen reinigt?
Hör-Tipp
Terra incognita - Russland, Donnerstag, 4. Dezember 2008, 11:40 Uhr
Buch-Tipp
Anya Ulinich, "Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg", aus dem Englischen von Pieke Biermann, dtv
Links
Anya Ulinich
Maud Newton - Kevin Kinsella interviews Anya Ulinich
Serov Children Art School