Feine Alltags-Beobachtungen
Das Hemd
Das Leben ist schön, bunt und aufregend, so die Botschaft von Jewgenij Grischkowez' Roman "Das Hemd". Es ist ein Buch voll von Emotionen. Eine Qualität des Romans ist Grischkowez' feine Beobachtung für das, was den Alltag auszeichnet.
8. April 2017, 21:58
Als Sascha morgens erwacht, beschließt er, ein Hemd zu tragen. Ein weißes, sein Lieblingshemd. Als er abends ins Bett fällt, ist vieles passiert an diesem einen Tag in Moskau, und das Hemd hat die Spuren des Tages abbekommen, den Schmutz der Straße, verschütteten Mojito, das Blut eines Autounfalls.
Vieles ist passiert, aber nicht das, worauf er gewartet und was ihn für die Wahl dieses Hemdes motiviert hat. Sie hat er nicht getroffen. Dennoch war es ein Tag, den es zu leben gelohnt hat, mit vielen Überraschungen und unerwarteten Wendungen, ein Tag der Lebensfreude, prallvoll von den Widersprüchlichkeiten, die das Leben ausmachen, Liebe, Gefahr, Männerfreundschaft, Autorität, Mitmenschlichkeit, Eifersucht und Konkurrenz.
Schön, bunt und aufregend
Das Leben ist schön, bunt und aufregend, so die Botschaft von Jewgenij Grischkowez' Roman "Das Hemd". Es ist ein lebendiges Buch, ein Buch voll von Emotionen, es ist der Roman der Ausrufezeichen, denn das Ja zum Leben drückt sich auch orthographisch aus.
Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal im eigenen Autor durch Moskaus Straßen fuhr. Allein. Und furchtbar überrascht war. Es war gar nicht so schrecklich! Überhaupt nicht! Wie erstaunlich das war - ich fuhr durch Moskau! Niemand zeigte mit dem Finger auf mich, alles war in Ordnung. Ich war so verblüfft über dieses Gefühl, dass ich gleich zwei Mal um den ganzen Gartenring fuhr und danach noch bis Mitternacht ziellos herumkurvte.
Fehlen von Ehrgeiz und Leistungsdruck
Ist Sascha der Prototyp des russischen Dandys des 21. Jahrhunderts, wie der Klappentext der überaus gelungenen deutschen Übersetzung von Beate Rausch nahelegt? Ein Dandy, der sich spielerisch und oberflächlich durchs Leben treiben lässt? Oder ist das der westliche Blick, der sich das Fehlen von Ehrgeiz und Leistungsdruck nicht anders erklären kann, weil der Alltag dieses russischen Architekten sonst unbegreiflich wäre, ein Alltag der sich zwischen Baustelle, Cafe, Restaurant und Bar abspielt, während Sascha die Freundschaft zu Max pflegt, dem Freund aus der Heimatstadt in der russischen Provinz, der in Moskau zu Besuch ist und mit ihm über das Leben räsoniert, zugleich eine Liebesbeziehung weiterspinnt, und die Geschäfte nebenherlaufen?
"Wie man diesen Roman auffassen wird, diesen Stadtroman, der ein zeitgenössischer ist, ein Roman der Gegenwart, und wie sehr sich zum Beispiel ein Leser aus Wien darin wiederfinden kann, oder ob man das Ganze als die Geschichte eines Russen begreifen wird, das ist es, was mich am meisten interessiert", so der Autor.
Grischkowez ist auf verschlungenen Wegen Romanschriftsteller geworden. Der ausgebildete Literaturwissenschaftler begann als Pantomime und gründete seine eigene Truppe, zunächst in seiner sibirischen Heimatstadt Kemerowo. Irgendwann befriedigte ihn die metaphorische Kunst der Pantomime nicht mehr und er suchte den direkten Draht zum Publikum, er begann Stücke zu schreiben. Und traute sich die Polyphonie des Romans anfangs gar nicht zu. Bis er dann "Das Hemd" schrieb, seinen ersten Roman, der auch mit eigenen Erfahrungen zu tun hat, mit dem Wechsel von der Provinz in die Hauptstadt, hier in der Freundschaft zwischen Sascha und Max abgebildet. Inzwischen schreibt Grischkowez nur mehr Prosa und lebt von den Gastspielen seiner Stücke, mit denen er durch Europa tourt.
Neuer Realismus
Als Autor fühlt er sich der humanistischen Tradition Tschechows und Bunins verpflichtet, im Sinne eines neuen Realismus. Er sieht seine Aufgabe darin, der inzwischen veralteten, wie er meint, aber in Russland immer noch überaus populären Postmoderne entgegenzutreten, in der ein Viktor Pelewin und Vladimir Sorokin steckengeblieben seien.
"So wenig verständlich dieses gegenwärtige Leben auch sein mag, dennoch ist das Leben möglich und dennoch lohnt es sich", meint er. "Die Kritik hat mir vorgeworfen, dass ich zu gut, genauer gesagt, zu wohltuend schreiben würde, dass es in meinen Texten keine sozialen Probleme gibt. Soziale Probleme interessieren mich nicht. Die soziale Literatur hat es schon gegeben und sie ist veraltet. Warum mich in einem künstlerischen Werk die soziale Problematik nicht interessiert: Der Held in der sozialen Literatur liest kein Buch. Und ich möchte, dass der Leser sich selbst wiederfinden kann. Denn das Lesepublikum ist ein Publikum mit Bildung, das sind Menschen, die arbeiten, und die durchaus kein einfaches Leben haben, auch wenn es von außen besehen recht gelungen aussieht: Sie haben ein Auto, eine Wohnung, Arbeit, Kinder, eine Familie..."
Deshalb seien seine Protagonisten immer Bewohner einer Großstadt, hätten Bildung und einen wenig außergewöhnlichen Beruf.
Das Geheimnis des Erfolges
Wiedererkennbar sollen sie sein, und vielleicht ist gerade das das Geheimnis seines Erfolges: dass man sich selbst in seinen Helden wiederfindet: "Der Mensch besteht zu 90 Prozent aus Wasser. Und 90 Prozent unseres Lebens gehen wir einkaufen, schlafen wir, essen wir, unterhalten uns mit unseren Kollegen oder zu Hause, erholen uns, spielen mit den Kindern. Sehr selten passiert uns eine ernste Liebe und sehr selten haben wir das Problem, für etwas entscheiden zu müssen, eine Heldentat begeht ein Mensch vielleicht überhaupt nur einmal in seinem Leben. Ich schreibe über das Wasser, aus dem der Mensch besteht, dieses Wasser interessiert mich."
Eine Qualität des Romans ist Grischkowez' feine Beobachtung für das, was den Alltag auszeichnet, geradezu veredelt: wenn die Begegnung von Mensch zu Mensch, so flüchtig sie sein mag, in ihrer Bedeutung wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Zum Beispiel der nette Taxifahrer, der Sascha das Seidentuch schenkt, das jemand bei ihm vergessen hat:
Ich stieg aus dem Wagen dieses feinen Kerls. Ich hatte immer noch keine Entscheidung getroffen, wieviel Trinkgeld ich ihm geben sollte ... Ich gab ihm etwas mehr als üblich. Verabschiedete mich von ihm irgendwie unbeholfen, war dann mit mir selbst unzufrieden. Er fuhr die Straße entlang, ich sah ihm nach. Dieses Hinterhersehen war eher ein kleines Ritual. So brachte ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck. Ich hatte Glück gehabt mit diesem Mann. Mehr als eine halbe Stunde meines Lebens hatte ich intensiv und interessant verbracht. Eine Sekunde, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden war, begriff ich, dass ich meine Handschuhe in seinem Wagen vergessen hatte.
Buch mit universal-humanem Charakter
"Das Hemd" ist tatsächlich ein Buch mit universal-humanem Charakter, dennoch ist es nicht westeuropäisch: Rivalität und verbindende Rituale zwischen Männern, etwa: Wie macht man einer Frau richtig den Hof? Was hier als Machismus gedeutet wird, ist dort eine unschuldige Männerfreundschaft. Und was bei uns als oberflächlich gilt, ist eher Planlosigkeit, die Suche nach der Eingebung des Moments, nach dem Leben um des gelungenen Moments willen. Ein lustiges Buch, witzig und humorvoll. Aber unterscheidet sich auch hier die Wahrnehmung?
"Ich sehe nicht viel Humor in diesem Roman", so Grischkowez, "das, was ich sehe, ist Lebensfreude, Freude am Leben, das ja nicht leicht ist. Der Leser lacht deshalb, weil er erkennt, dass es eben einfach so ist und dass es ihm nicht alleine so geht. Das macht Freude. Humor im Text an sich gibt es wenig, das ist wenigstens mein Eindruck. Fröhlich ist der Roman, weil es Lebensfreude in ihm gibt."
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 14. Dezember 2008, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Ewgenij Grischkowez, "Das Hemd", aus dem Russischen von Beate Rausch, Amann Verlag