Mehrfach preisgekröntes Werk

Der weiße Tiger

Der mit dem Booker-Preis prämierte Roman beschreibt indische Lebenswirklichkeiten aus der Perspektive der sozialen Unterschicht. Als Journalist hat Adiga ein Indien kennengelernt, das den Angehörigen der Mittel- und Oberschicht verschlossen bleibt.

Aravind Adigas Kurzbiografie auf der Umschlagklappe enthält einen ungewöhnlichen Hinweis. "Der Autor", heißt es da, lebt ohne Diener in Mumbai. Eine ironische Pointe und doch mehr als das. Als Angehöriger der Mittel-oder Oberschicht in Indien keinen Diener zu haben, kommt einem Skandal gleich. Wer, wie Aravind Adiga, obendrein ein Single ist, kann ernsthafte Probleme bekommen, wenn er in Mumbai, immerhin der weltoffensten Stadt des Landes, eine Wohnung mieten will. Das behauptet der Autor jedenfalls in einem Artikel im Guardian.

"Der weiße Tiger" ist aus der Perspektive Balram Halwais geschrieben, eines Mannes, der in seinem früheren Leben Diener war und es nicht bleiben will. Und das, obwohl es für ihn, der aus einer bettelarmen Familie kommt, einen ungeheuren gesellschaftlichen Aufstieg darstellt, einen reichen Mann bedienen zu dürfen.

Geboren ist Balram in Laxmangarh in der armen Provinz Biha, aus der auch Buddha stammt. Beherrscht und ausgebeutet vom so genannten Großen Sozialisten und vier hohen Tieren, den Großgrundbesitzern, bleibt der Mehrheit der Bevölkerung zu wenig, um ein Leben zu führen, das diesen Namen verdient.

Journalistische Erfahrung

Warum sich Adiga, der ganz anders sozialisiert wurde, so gut in die Rolle der Ärmsten der Armen hineinversetzen kann? Vielleicht weil er jahrelang als Journalist gearbeitet und jene Seiten Indiens kennengelernt hat, die nicht nur Touristen, sondern auch den Angehörigen der Mittel- und Oberschicht verschlossen bleiben. "Der Schock erfolgt natürlich immer bei so einer Lektüre, weil die Leute, die in Indien englischsprachige Literatur lesen, ausnahmslos der oberen Mittelschicht oder gar der Oberschicht angehören. Diese Menschen kennen die in diesen Büchern beschriebene Realität tatsächlich nicht", so der Autor Ilija Trojanow, der viele Jahre in Indien gelebt hat.

Der Vater des Protagonisten Balram ist Rikschafahrer, die Mutter früh verstorben, die Büffelkuh der einziger Schatz der Familie, der Schulbesuch ein Luxus, die Großmutter eine Haustyrannin. Fast alle an diesem Ort leben in unerträglichen Umständen, fast alle nehmen die politische Situation als Kismet. Balram ist anders.

Vielleicht liegt es daran, dass der Vater alle seine Hoffnungen in ihn gesetzt hat, und Balram so lange wie möglich zur Schule schickt. Vielleicht liegt es daran, dass zumindest die Zehen seiner toten Mutter nicht verbrennen wollten, weil die Familie zu wenig Geld für Holz hatte. Der heilige Fluss Ganges mit seinen Fäkalien und dem Schlamm, der die Mutter letztlich aufnimmt, kann ihm seither jedenfalls gestohlen bleiben. Vielleicht liegt es auch daran, dass Balram seinen Vater sterben gesehen hat, in einem vom "Großen Sozialisten" fürs Volk erbauten Provinzspital, in dem kein Arzt zugegen ist, weil sich der beim Regierungsbeamten von seinem Dienst loskauft und einer lukrativeren Beschäftigung nachgeht.

Sicher liegt es auch daran, dass Balram mitgekriegt hat, wie ein Rikschafahrer, Kollege seines Vaters, von einem korrupten Buschauffeur namens Vijay und der Polizei am Wählen gehindert wird.

Reale Vorbilder
Als er zur Schule kam, hatten die Anhänger des "Großen Sozialisten" bereits auf einer Tafel draußen das Endergebnis notiert. In dieser Kabine hatten sie 2341 Stimmen gezählt und alle waren für den "Großen Sozialisten" abgegeben worden. Busfahrer Vijay stand auf einer Leiter und nagelte ein Symbol des "Großen Sozialisten" an die Wand (die Hände, die ihre Fesseln sprengen). Die Parole lautete: LAXMANGARH GRATULIERT DEM GROSSEN SOZIALISTEN ZU SEINEM EINSTIMMIGEN SIEG
Vijay ließ Hammer, Nägel und Banner sinken, als er den Rikschafahrer näher kommen sah.
"Was willst du denn hier?"
"Wählen", rief der zurück. "Ist heute nicht Wahltag?"
(Seite 105)


Der Wahltag ist der letzte Tag im Leben des couragierten Rikschafahrers. Vom Buschaufffeur und der Polizei wird er tot geschlagen und in den Boden getrampelt. Balram, der noch Großes mit sich vorhat, ist rechtzeitig geflohen und war nicht dabei. Seither weiß er, was er vom "Großen Sozialisten" zu halten hat.

Für diese Figur gibt es ein reales Vorbild, wie auch für eine weitere in Adigas Roman, die beim realen Namen genannt wird. Es handelt sich um Wen Jiabao, den amtierenden Ministerpräsidenten Chinas, der auf Besuch nach Bangalore kommt, der Millionenstadt der Software-Unternehmer, in der Balram Halwai, genannt "der weiße Tiger", mittlerweile seine eigene Firma aufgebaut hat.

Balram kann nicht zulassen, dass der politische Repräsentant der Großmacht China, das Softwareparadies Bangalore besucht, ohne über die wirklichen Verhältnisse in Indien aufgeklärt zu werden. Deshalb mailt er ihm spätnachts oder frühmorgens, unter einem Kronleuchter sitzend, seine Geschichte.

Zynisch und doch mit Unschuld
Es ist die Geschichte eines Mannes, der eines Tages nicht mehr Diener sein will und seinem Arbeitgeber die Kehle durchschneidet. Es war ein relativ netter Arbeitgeber, einer, der über den engen Horizont seiner sozialen Kaste geringfügig hinausgeschaut hat. Aber ohne seinen Tod wäre Balram nicht dort, wo er heute ist. Nämlich in Bangalore, in einem abgefuckten Büro, aber immerhin Herr seiner selbst.

Balram Halwei weiß, dass nach ihm gefahndet wird, schließlich gibt es ein Fahndungsplakat. Er weiß auch, dass die Polizei weiß, wo er ist. Jene Polizei, die Menschen umbringt, die wählen wollen. "What a fucking joke" sagt er. Klar, er ist ein Mörder, aber wenn ihn ausgerechnet die mörderische Polizei so nennt, ist das ein schlechter Witz. Kann sein, dass er eines Tages verhaftet und verurteilt wird. Aber auch dann hat es sich gelohnt, für ein paar Jahre kein Diener zu sein.

Ein packender Roman, zynisch geschrieben und doch mit Unschuld.

Das Buch der Woche ist eine Aktion von Ö1 und der Tageszeitung Die Presse

Mehr zum Booker-Preis für Aravind Adiga in oe1.ORF.at

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Buch-Tipp
Aravind Adiga, "Der weiße Tiger", C.H. Beck

Link
C.H. Beck - Der weiße Tiger