Auf den Spuren verdrängter Geschichte

Das geheime Leben der Sprachen

Mit nahezu kriminalistischen Methoden kam die Sprachwissenschaftlerin Katharina Brizic der möglichen Lösung eines Rätsels auf die Spur. Warum haben manche Kinder aus Einwandererfamilien große Schwierigkeiten mit Deutsch, andere nicht?

Es gibt "Heureka"-Momente, in denen Unerklärliches plötzlich verständlich wird. Katharina Brizic wartete gerade auf die U-Bahn, als sich das Puzzle zusammenfügte, das sie und Fachleute in ganz Europa beschäftigte: Warum haben Kinder aus einigen wenigen Herkunftsländern - der Türkei, Marokko und Bangladesch - deutlich größere Schwierigkeiten, Deutsch zu lernen, aber noch rätselhafter, auch ihre eigene Erstsprache gut zu beherrschen?

Ein ungelöstes soziales Problem

Das Phänomen alarmiert Bildungs- und Schulverantwortliche in verschiedenen Ländern Europas, denn geglückter Spracherwerb ist eine wichtige Voraussetzung für Berufserfolg, sozialen Aufstieg und Integration - im Interesse der Einzelnen und der gesamten Gesellschaft.

In Österreich zeigten sich die irritierenden Ergebnisse in einer Untersuchung für das Bildungsministeriums. Sie zu erklären wurde die Sprachwissenschaftlerin Katharina Brizic beauftragt.

Scheinbar paradoxe Zusammenhänge

Ihre Nähe zum Thema wurde Katharina Brizic sozusagen in die Wiege gelegt. Ihr Vater war aus Kroatien (damals Jugoslawien) nach Wien gekommen, hatte seine Sprache aber nicht an die Tochter weitergegeben - so wie es häufig geschieht.

Wenn beide Eltern mit ihren Kindern nicht ihre eigene Muttersprache sprechen, sondern die (weniger gut beherrschte) Zweitsprache Deutsch, dann fehlt den Kindern eine wichtige Basis zur Entwicklung ihrer Sprachkompetenz. Sie werden nicht nur die ursprüngliche Familiensprache nicht oder schlechter erlernen, sondern auch mit der Umgebungssprache Deutsch mehr Mühe haben. Das ist in der Sprachwissenschaft inzwischen vielfach dokumentiert.

Ein Verlust für Generationen

Doch in vielen, behutsamen Gesprächen und durch Recherchen in Geschichte, Politik und Soziologie fand Katharina Brizic heraus: Bei vielen Einwanderern aus der Türkei, sowie bei Roma und Sinti aus dem ehemaligen Jugoslawien, gab es schon früher Sprachwechsel.

Unter dem Druck der Politik sind viele Familien schon im Herkunftsland zur Mehrheitssprache übergegangen. Bei fehlenden Bildungsmöglichkeiten wie z.B. in der Türkei bedeutete das den Verlust einer unschätzbaren Ressource: des Sprachkapitals, wie Katharina Brizic es nennt.

Sprachverlust, so zeigte Brizics Studie mit 60 Volksschulkindern und ihren Familien, wirkt sich sogar über Generationen aus, nämlich als bedeutender Risikofaktor für den Spracherwerb.

Auszeichnungen und Widerspruch

Wo immer Katharina Brizic ihre Ergebnisse präsentiert, löst sie lebhafte Diskussionen aus, erzählt sie. Unter Angehörigen der Migranten-"Communities" sind die Reaktionen gespalten: Sie reichen von vehementer Ablehnung bis zu Erleichterung und Dankbarkeit, dass das schwierige und oft verdrängte Thema angesprochen wird.

Für ihre Arbeit erhielt Brizic den deutschen Nachwuchspreis Bildungssoziologie sowie den ersten Preis in einem Wissenschaftswettbewerb der Autonomen Provinz Südtirol. Derzeit arbeitet sie an einer umfangreichen Nachfolgestudie, die ihre Theorie bestätigen (oder widerlegen) und besser erklären soll, wie ein Sprachwechsel auch über Generationen so stark nachwirken kann.

Katharina Brizic war zunächst Musikerin, am Konservatorium der Stadt Wien schloss sie Klavier als Konzertfach ab. Heute spricht sie davon, dass sie ihrem Material "zuhört" und es sie leiten lässt.

Die kroatische Muttersprache ihres Vaters hat sie sich übrigens dann als Kind und Jugendliche überraschend selbst angeeignet. Mit ihren Verwandten in Kroatien kann sie sich inzwischen fast wie in ihrer Muttersprache verständigen.

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 22. Dezember 2008, 19:05 Uhr

Buch-Tipp
Katharina Brizic, "Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration", Waxmann Verlag

Link
Bericht über die erste Untersuchung von Katharina Brizic
Das aktuelle Nachfolgeprojekt im Auftrag des Wissenschaftsfonds FWF