Hereinspaziert, hereinspaziert!
The Circus 1870 - 1950
Der Zirkus ist eine Unterhaltungsform, die ihre besten Jahre lange hinter sich hat. Das war nicht immer so. Ein neuer Luxus-Prachtband führt eindrücklich vor Augen, dass der Zirkus im ausgehenden 19. Jahrhundert wesentlich bessere Zeiten erlebt hat.
8. April 2017, 21:58
Schon vor 100 Jahren brachten Unterhaltungs-Profis den damals rund 76 Millionen Amerikanern die Welt ins Haus. Nicht per Knopfdruck und eigentlich nur vor die Türe, doch die Prinzipien waren nahezu ident. Wer im Rampenlicht stehen wollte, ging zu einem der großen Wanderzirkus-Unternehmen, die kreuz und quer durchs Land zogen, denn die Spotlights der Manege strahlten heller als im Theater, in den Varietés oder in den Musikshows.
Todesmutige Draufgänger, stramme Dompteure, wilde Tiere, Starlets, Freaks und Superhelden beflügelten die Fantasie von Zehntausenden Besuchern pro Vorstellung in den gigantischen Zirkuszelten.
Ein ganzer Ort im Zirkus-Taumel
Die Prozedur lief fast immer nach dem gleichen strategischen Marketingkonzept ab. Mannschaften von Plakatklebern reisten dem Zirkustross voraus. Ein ganzer Ort bereitete sich dann auf die Ankunft der knallbunten Truppen vor. Die Geschäfte schlossen, die Kinder bekamen schulfrei und alles strömte zur Parade, die den eigentlichen Vorstellungen voranging. Tiere, die man noch nie zuvor gesehen hatte, stolze Artisten und strahlende Schönheiten in glitzernden Pailletten-Kostümen - zu Höchstleistungen angespornt durch mitreißende Marschmusik. Niemand wollte dieses einmalige Ereignis versäumen. Vor allem Themen-Spektakel wie "Buffalo Bills Wildwest-Show", die "Australian Cannibal Boomerang Show" oder "Kleopatra, Königin von Ägypten" zogen die Menschen magnetisch an.
Diese Prunkzüge erzeugten genau wie die Menagerien ein Bild von fernen Ländern und märchenhaften Königreichen, in denen der Maharadscha mit seinem Hofstaat in einer endlosen Prozession auf heiligen Elefanten umherzog.
"The Greatest Show on Earth" nannte das berühmte Zirkusunternehmen Barnum & Bailey gar nicht bescheiden sein Programm, mit dem es schon Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in einem eigenen Zug durchs aufstrebende Amerika fuhr. Die einfacheren Transportmöglichkeiten auf Schiene und zuweilen auch auf Plattbodenschiffen und Schaufelraddampfern führten zu einem wahren Zirkusboom. Kleinere Truppen schlossen sich immer öfter zu riesigen Shows mit bis zu drei Manegen, vier Bühnen und einem Hippodrom unter einem Zirkuszelt zusammen.
Kampf um jeden Kunden
Der Konkurrenzkampf nahm immer absurdere Dimensionen an. Nicht selten kamen Zirkusleute in einem Ort an und mussten feststellen, dass ihre Plakate schon von einem Mitbewerber übermalt worden waren. Der Kampf um jeden Kunden war die Geburtsstunde des modernen Marketings. P. T. Barnums Vortrag "Die Kunst des Geldverdienens" mit Leitsätzen wie "Egal, was Sie tun, tun Sie es mit ganzer Kraft", "Lesen Sie die Zeitungen", "Werben Sie für Ihr Unternehmen" gilt noch heute als heimliche Bibel für Jungunternehmer weltweit.
Der Wettbewerb um das Taschengeld der amerikanischen Arbeiter war knallhart. Werbung wurde zum wesentlichen Aspekt des Erfolges. Mehr als ein Viertel ihres Budgets gaben die Zirkusdirektoren allein dafür aus und hielten damit zur damaligen Zeit die einsame Spitzenposition in der Unterhaltungsbranche.
Die Konkurrenz schlief nicht. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Vaudeville- und Varieté-Shows immer beliebter und Nickelodeon-Theater zum billigeren Vergnügen für den kleinen Mann.
Aufstrebende Filmwirtschaft
Der kommerzielle Stummfilm schien die Vorherrschaft der Gaukler und Dompteure überhaupt zu brechen. Doch diese wehrten sich verbissen mit noch mehr atemberaubenden Nummern und noch mehr Rummel um ihre großen Manegen-Stars. Die Klatschkolumnisten sollten nicht nur Filmsternchen nachlaufen, sondern auch den neuesten Tratsch über die attraktivsten Zirkusartisten schreiben.
Die berühmte Seiltänzerin Bird Millman sang und tanzte auf dem Hochseil im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Lillian Leitzel, "die Königin der Trapezkünstler", ließ die Reporter in ihren Privatwaggon und zeigte, wie sie lebte, wenn sie nicht hoch über der Manege durch die Luft turnte. Als die liebreizende Kunstreiterin Harriet Hodgini der Liebe wegen vom Zirkus weglief, wurde ebenfalls darüber berichtet.
Abkehr vom Gauklerwesen
Die beiden Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise, ein verheerendes Feuer 1944 mit 168 Toten und schließlich das Fernsehen setzten dem Zirkus hart zu. Ab 1956 war die Zeit der bombastischen Riesen-Shows endgültig vorbei, weil die Gewerkschaften für Zirkusangestellte Löhne durchsetzten, die kein Direktor mehr zahlen konnte.
Schließlich waren auch die Diskussionen um das Wohlergehen der vierbeinigen Mitarbeiter ein Grund für eine zunehmende Abkehr vom staubigen Gauklerwesen. Die Truppen wurden kleiner und ärmlicher und vielleicht auch wieder ein wenig charmanter. Die Zeit der Superlative war zu Ende.
Prunkband mit 900 Bildern
Der Taschen Verlag bringt sie nun wieder mit großem Trara zurück, denn schon die reinen Zahlen und Daten des Buches stehen den protzigen Werbebotschaften der einstigen Riesenzirkusse um nichts nach: 670 29x44 Zentimeter große Seiten, 900 Schwarz-weiß- und Farbillustrationen, 6,6 Kilogramm für immerhin 150 Euro.
Das Material enthält Werke der wichtigsten Zirkusfotografen ebenso wie herausragende Arbeiten des berühmten Sezessionskriegs-Chronisten Mathew Brady, der Fotoreporter-Legende Weegee sowie kaum bekannte Aufnahmen von Stanley Kubrick oder Charles und Ray Eames. Dazu kommen 200 lithografische Poster, die als absolute Meisterstücke ihrer Zeit gelten und Stiche aus dem 16. bis 19. Jahrhundert, die die Wurzeln der Zirkuskunst eindrucksvoll veranschaulichen. Vor allem die grellbunten und bislang unveröffentlichten Kodachrome-Abzüge aus den 1940er- und 50er-Jahren zeigen die Lebensfreude und Darstellungslust der Artisten auf beeindruckende Weise.
Dumbo, der Elefant
Als Betrachter mit Herzensbildung wird man unmittelbar berührt von der Freiheitsliebe und vom Stolz der Zirkusmenschen und taucht ein in eine schöne, versunkene Welt, die auch mit unnützem Wissen nicht geizt. Oder haben Sie sich nie gefragt, woher der Ausdruck "Jumbo" stammt?
Der weltberühmte Jumbo war eine so große Attraktion, dass sein Name als Synonym für alles Riesige, Gigantische, Dicke in die Sprache einging. Sein richtiger Name war Jumbe, was auf Suaheli "Häuptling" bedeutet, und mit fast vier Metern Schulterhöhe war Jumbo in der Tat ein imposantes Geschöpf. Das riesige Tier starb bei einem Unfall auf einem Rangiergleis, wo es während der Saison 1885 von einem außerplanmäßigen Zug überfahren wurde.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Linda Granfield, Dominique Jando, Fred Dahlinger, Noel Daniel (Hg.), "The Circus 1870 - 1950", dreisprachige Ausgabe (Deutsch, Englisch, Franzöisch), Taschen Verlag
Link
Taschenverlag - The Circus