Ein fiktives Treffen

Evolution im Klostergarten

Bis in frühe 20. Jahrhundert schienen sich Darwins Evolutionstheorie und die auf Mendel zurückgehende Genetik gegenseitig auszuschließen. Hätten die beiden Forscher je Kontakt zu einander gehabt, hätten sie sich wohl einiges zu sagen gehabt.

Nachdem Charles Robert Darwin im Jahre 1859 sein Hauptwerk über die Evolutionstheorie "On the Origin of Species" beendet hatte, widmete er sich seinem nächsten großen Projekt, der Beschreibung dessen, wie sich Pflanzen und Tiere durch Zucht verändern. Er dachte zunächst, dass die Vererbung durch die Vermischung des Bluts der Eltern zustande kam. Ausgangspunkt seien die Zellen.

Diese Körnchen, die Darwin auch Keimchen nannte, wurden seiner Vorstellung nach von jedem Teil der Elternorganismen abgegeben und zirkulierten frei im Körper. Sie sammelten sich in den Geschlechtsorganen und wurden bei der Fortpflanzung weitergegeben. Weil sich im Kind dann die Keimchen von Vater und Mutter mischen, schaut es meistens beiden ein bisschen ähnlich. Dieses Modell nannte er "Pangenesis".

Gregor Mendel entdeckt die Vererbungsregeln

Während in Down in der englischen Grafschaft Kent Charles Darwin weiter an der "Pangenesis" tüftelte, kreuzte im weit entfernten Brünn der Mönch Gregor Mendel in seinem Klostergarten Erbsen. Und entdeckte dabei Grundregeln der Vererbung, die bis heute gelten.

Beide, der Begründer der Evolutionstheorie und der Pionier der Genetik, entwickelten ihre Theorien über ein dreiviertel Jahrhundert bevor die Struktur der Erbsubstanz DNA entdeckt wurde und lange bevor überhaupt so etwas wie DNA, Gene oder Chromosomen bekannt waren. Kontakt hatten die zwei zueinander nie. Zu sagen hätten sie sich aber wohl einiges gehabt.

Ein fiktiver Briefwechsel

(zusammengestellt aus Briefen und Werken von Mendel und Darwin)

Seit den frühen 1850er Jahren widmet Gregor Mendel nun schon fast seine gesamte Freizeit Pisum, der Erbse. Mendel ist speziell auch vom Variantenreichtum der Erbsen angetan. Da gibt es rote und weiße Blüten, schrumpelige und runde Samen, gelbe und grüne Schoten - und nie weiß man so genau, was herauskommt, wenn man die verschiedenen Merkmale kreuzt. Zumindest am Anfang nicht. Nach und nach beginnen dem Mönch gewisse Regelmäßigkeiten aufzufallen - er ist fasziniert, hat ihm doch kurz zuvor der berühmte britische Naturforscher Charles Darwin eine kurze Notiz zukommen lassen:

Es gibt nun viele Gesetze, welche die Veränderungen regeln, von welchen einige wenige sich dunkel erkennen lassen (Charles Darwin, "Die Entstehung der Arten")

Über Umwege hat er von dessen Erbsenversuchen gehört und ist neugierig geworden. Gewohnt, per Post Beobachtungen aus der ganzen Welt zu erfragen, die eine Rolle für seine Theorien spielen könnten, zapft er auch das Wissen des Brünner Mönches an.

Die Erbsenblüten verfärben sich nach seltsamen Regeln

Mendel fühlt sich geehrt und antwortet umgehend:

Die anerkannten Verdienste, welche Euer Wohlgeboren erworben haben, machen es mir zur angenehmen Pflicht, die Beschreibung einiger Versuche über künstliche Befruchtung an Pflanzen zu gütigen Kenntnisnahme vorzulegen. Die Versuche wurden mit verschiedenen Formen von Pisum durchgeführt und führten zu dem Resultate, dass die Nachkommen der Hybriden ganz eigentümliche Reihen bilden, deren Glieder sich gleichmäßig zu den beiden Stammarten hinneigen. Das Vorkommen konstanter Zwischenformen, das ich bei jedem Versuche bestätigt fand, scheint eine besondere Aufmerksamkeit zu verdienen. (Gregor Mendel, Briefe an Carl Nägeli 1866-1873, Brief I)

Darwin wird hellhörig. Gregor Mendel hat also Erbsen gekreuzt und dabei festgestellt, dass die Nachkommen einer rot und einer weiß blühenden Pflanze immer rot blühen. Alle. Die weiße Farbe scheint wie verschwunden. Wenn diese rotblühenden Pflanzen noch einmal untereinander gekreuzt werden, dann tauchen, in einem definierten Verhältnis zu den roten, aber wieder ein paar weiße auf. Das passt zu Beobachtungen, die auch Darwin nicht fremd sind.

Mendel korrigiert Darwin

Allerdings ist Darwin auch irritiert. Er hat auch Hinweise gefunden, die in eine ganz andere Richtung weisen, und die er sich so nicht erklären kann:

Es kommen aber auch unter denjenigen Bastarden, welche zwischen ihren Eltern das Mittel zu halten pflegen, zuweilen abnorme Individuen vor, die einer der reinen Stammarten außerordentlich gleichen; und diese Bastarde sind dann gewöhnlich auch äußerst steril, obwohl die mit ihnen aus gleicher Frucht-Kapsel entsprungenen Mittelformen sehr fruchtbar zu sein pflegen. (Charles Darwin, "Die Entstehung der Arten")

Gregor Mendel ist sich seiner eigenen Experimente inzwischen sicher genug, um auf einen grundlegenden methodischen Fehler aufmerksam zu machen. Einen, dem wie er meint auch sein berühmter englischer Kollege aufgesessen ist:

Angaben wie 'einige Individuen waren dem mütterlichen, andere dem väterlichen Typus nähergerückt' oder 'die Nachkommen waren mehr zum Typus der Stammmutter zurückgekehrt' sind zu allgemein gehalten, zu unbestimmt, als dass sich daraus ein sicheres Urteil ableiten ließe. (...) Eine Entscheidung lässt sich wohl nur von Versuchen erwarten, bei denen der Grad der Verwandtschaft zwischen den Hybridformen und ihren Stammarten diagnostisch begründet und nicht bloß nach dem Gesamteindrucke abgeschätzt wird. (Gregor Mendel, Briefe an Carl Nägeli 1866-1873, Brief I)

Genau das versucht er seit immerhin zehn Jahren. Er kreuzt und quantifiziert die Nachkommen, zählt Erbsen im wahrsten Sinn des Wortes und wertet seine Ergebnisse mathematisch-statistisch aus. Das hat kein Züchter vor ihm mit dieser Akribie getan. Und nur so lassen sich Regeln für die Vererbung begründen, ist Mendel überzeugt, nicht durch rein beschreibendes Beobachten.

Mendel konnte Darwin nicht helfen

Darwin legt Mendel seine "Pangenesis"-Theorie dar. Sein Modell ist spekulativ, er kann kaum Experimente aufweisen, die seine Theorie untermauern würden. Darwin hofft auf Gregor Mendel. Dessen Erbsenversuche, die er sich nun noch einmal genauer angeschaut hat, sind interessant. Sehr interessant. Aber eine einzige Art scheint ihm zu wenig, um grundsätzliche Regeln aufzustellen. Er bittet den Mönch, nach Mischformen verschiedener Pflanzen in der freien Natur Ausschau zu halten. Doch Mendel muss auf Grund seines Alters und Übergewichtes abwinken.

1883 erkrankte Gregor Mendel schwer und starb, 61-jährig, am 6. Jänner 1884. Tatsächlich hatte er Sonderdrucke seiner 1866 erschienenen Arbeit "Versuche über Pflanzenhybride" an namhafte Wissenschaftler in aller Welt gesandt. Möglicherweise auch an Charles Darwin, dessen Werke er allesamt bestellte und las, sobald sie in deutscher Übersetzung erschienen waren. Es ist jedoch kein Brief Mendels an Darwin erhalten.

Hör-Tipp
Dimensionen, 7. Jänner 2009, 19:05 Uhr

Alle Sendungen zu "Projekt Darwin" der kommenden und vergangenen 35 Tage finden Sie in oe1.ORF.at

Link
Wikipedia - Charles Darwin
Wikipedia - Gregor Mendel