MIDEM Classical Award - Teil 4

Die besten ersten Aufnahmen

Die "Erstaufnahmen" bieten einen bunten Haufen von Genres und Epochen. Das liegt in der Natur der Kategorie und auch an der Tatsache, dass die Künstlerinnen und Künstler bzw. Labels selbst die Kategorie, für die sie sich bewerben, auswählen.

"Wer zuerst kommt …" - das Unentdeckte hat Konjunktur, längst nicht mehr nur bei der sogenannten Alten Musik. Die "Erstaufnahmen" bieten einen bunten Haufen von Genres und Epochen. Das liegt in der Natur der Kategorie (die neue Kompositionen ebenso wie neue Arrangements oder Neuentdeckungen alter Werke umfasst) und auch an der Tatsache, dass die Künstlerinnen und Künstler bzw. Labels selbst die Kategorie, für die sie sich bewerben, auswählen.

Auffällig ist, dass nur wenige der ganz berühmten Orchester, Ensembles oder Solisten zu finden sind. Die großen Orchester, auch die Rundfunkorchester (mit Ausnahme des SWR -Symphonieorchesters) fehlen, die berühmten Spezialorchester für die Musik des 17. oder 18. Jahrhunderts sind spärlich vertreten und die weltberühmten Solisten fehlen vollständig - das Risiko von Erstaufnahmen scheint nicht die Sache derjenigen zu sein, die die Höchstgagen in unseren Konzertsälen beziehen. Das mag teilweise aber auch daran liegen, dass wieder (wie letztes Jahr) die sogenannten "Major Labels" unter den Bewerbern (Deutsche Grammophon oder EMI) kaum vertreten sind.

Die über 30 Aufnahmen der letzten drei Auswahlrunden könnte man nach meiner Meinung in folgende Gruppen teilen:

Zu Recht unentdeckt oder vergessen
Darunter fallen z.B. Antonio Salieris Ouvertüren und Ballettmusik (Mannheimer Mozartorchester/Thomas Frey) und auch Ignatz Joseph Pleyels drei Streichquartette opus 11 (die, bei aller Wertschätzung Pleyels, fast ausschließlich aus Klischees bestehen, zudem schlecht gespielt vom Quartetto Luigi Tomasini).

Zeitgenössisches
Dabei handelt es sich ja fast immer um Erstaufnahmen und gehört eigentlich in die Kategorie "Contemporary Music". Beispiel: John Pickard, The Flight of Icarus (erschienen bei BIS Records) - ein Orchesterwerk, das auf Auftrag der BBC 1990 entstanden ist und für mich unerklärlich weit, nämlich unter die letzten drei nominierten CDs gelangt ist.

Neue Auseinandersetzung mit Altem
Darunter fallen Arrangements oder Kompositionen, die ein bekanntes Werk verarbeiten, wie z.B. die von Jukka Tiensuu komponierten Akkordeon-Stücke zu Bachs Goldberg-Variationen. So beeindruckend der junge Akkordeonist Denis Patkovic die Goldbergvariationen auf dem Akkordeon umsetzt (nicht die erste Version dieser Art), so wenig teilt sich aber dem Hörer der Zusammenhang zu den Stücken Tiensuus mit. Zu recht früh ausgeschieden, aber schade um die Akkordeonkünste Patkovics.

Barockmusik
Relativ stark vertreten (wie auch vergangenes Jahr) waren Aufnahmen mit Musik aus dem 17. und (frühen) 18. Jahrhundert. Auch hier hätte es eine eigene Kategorie gegeben ("Baroque"), aber manchen war die Konkurrenz mit den Erstaufnahmen lieber. Mit Abstand herausragend hier eine Einspielung von Marin Marais' Oper "Sémélé" durch Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet (erschienen bei Glossa) - eine der drei letzten drei nominierten CDs.

Entdeckungen aus dem 20. Jahrhundert
Etwa das Klavierwerk von Wladimir Vogel (1896 - 1984), gespielt von Kolja Lessing. Eine hoch interessante CD, die es immerhin unter die letzten fünf der ausgewählten CDs gebracht hat. Vogel war ein Schüler Ferrucio Busonis, der ab 1920 Komposition an der Akademie der Schönen Künste in Berlin unterrichtete und teilweise zwölftönige Werke in höchst eigenständigem, expressivem Stil komponierte. (2 CDs bei Gramola erschienen).

Auch der Sieger unter den "First Recording" gehört zu dieser Gruppe - ebenfalls eine bemerkenswerte Aufnahme, für die ich gerne gestimmt habe: Drei Streichquartette von Egon Wellesz gespielt vom Artis Quartett Wien (Nimbus Records) - näheres siehe unten.

Die drei zuletzt nominierten Aufnahmen in der Kategorie "First Recording" des MIDEM Classical Award waren also (zufällig oder nicht) eine Mischung aus drei dieser Guppen. Barockes: Marais Oper "Sémélé" - Zeitgenössisches: die Aufnahmen dreier Werke von John Pickard ("The Flight of Icarus") - Entdeckungen aus dem 20. Jahrhundert: Das Artis Quartett spielt Egon Wellesz.

Die Sieger-CD
Dass das 1980 an der Wiener Musikhochschule gegründete Artis Quartett mit seiner Aufnahme dreier Streichquartette von Egon Wellesz den MIDEM Award dieser Kategorie gewinnt, ist auch österreichischer Sicht natürlich äußerst erfreulich - soviel Patriotismus darf/soll sein. Erfreulich ist überdies, dass sich damit eine Aufnahme durchgesetzt hat, die nicht durch exotische Ausflüge oder Ausgrabungen völlig unbekannter Komponisten überzeugen wollte, sondern vor allem durch eine musikalisch und technisch glänzende Spielweise beeindruckt. Die vier Streicher des Artis Quartetts (Peter Schuhmayer, Johannes Meissl, Herbert Kefer und Othmar Müller) spielen diese schwierigen, manchmal sperrigen oder schwermütigen, für das ungeübte Ohr schwer zugänglichen Quartette Welleszs mit höchster Intensität und feinem Klangsinn. Ein erfreulicher Preis.

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CD-Tipps
Egon Wellesz, "String Quartets nos. 3, 4, 6", Nimbus Records

Marin Marais, "Sémélé", Glossa

John Pickard, "The Flight of Icarus, The Spindle of Necessity, Channel Firing", BIS

Link
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