Drei Generationen Frauen

Der Regen, bevor er fällt

Der Londoner Schriftsteller hat sich bislang vor allem einen Namen mit politischen Romanen gemacht. In seinem neuen Werk erzählt er jedoch einfühlsam die Familiengeschichte von drei Generationen von Frauen - verpackt in eine ungewöhnliche Rahmengeschichte.

Jonathan Coe, 47, ist einer der Stars der jüngeren Londoner Literaturszene. Er hat sich in England mit politischen Romanen humorvoll-satirischen Zuschnitts einen Namen gemacht, mit bissigen Büchern über die Thatcher-Ära oder auch mit dem Pubertätsroman "Erste Riten", der Geschichte zweier Jugendlicher im Birmingham der 70er Jahre. In seinem neuen Roman "Der Regen, bevor er fällt" lässt Coe die Politik beiseite, er erzählt eine intime Familiengeschichte, einfühlsam und diskret, anrührend, ohne jede Sentimentalität.

"Ich habe mir gedacht, zur Abwechslung könnte ich die Dinge mal ein bisschen runterbrechen", sagt Coe, "alles, was in meinen früheren Büchern wichtig war, findet sich auch in 'Der Regen, bevor er fällt': die Auseinandersetzung mit dem Thema Familie, das Vergehen von Zeit, das Verblassen von Idealen, die sich in Bitterkeit und Desillusionierung auflösen - das alles hat auch in meinen früheren Büchern eine Rolle gespielt. Aber jetzt habe ich die Politik und den Humor und das ganze Zeug weggelassen und stehe ein bisschen schutzloser als sonst vor meinen Lesern."

Drei Generationen von Frauen

In seinem kunstvoll konstruierten Roman erzählt Jonathan Coe die Geschichte dreier Generationen von Frauen. Eines Tages, während der Arbeit im Garten, erfährt Gill, die Protagonistin der Rahmenhandlung, dass ihre Tante Rosamond mit 73 Jahren überraschend gestorben ist. Im Haus der Verstorbenen findet Gill heraus, dass Tante Rosamond Selbstmord begangen hat, mit einer Überdosis Diazepam und einigen Schlucken torfigen Malt-Whiskys.

Zuvor allerdings hatte die alte Dame noch stundenlang Tonband-Kassetten besprochen. Neben diesen Kassetten, vier an der Zahl, findet Gill ein DIN-A5-Blatt mit ein paar handschriftlichen Zeilen. Die Aufnahmen seien für eine Frau namens Imogen bestimmt, steht da zu lesen, Gill möge diese Frau ausfindig machen und ihr die Kassetten zukommen lassen. Falls das nicht möglich sei, dürfe sie sich die Kassetten auch selbst anhören.

Roman aus Bildbeschreibungen

Das ist die Rahmenhandlung, wie erwähnt. Um es kurz zu machen: Alle Recherchen nach Imogens Aufenthaltsort laufen ins Leere, Gill und ihre beiden erwachsenen Töchter hören sich die Kassetten selbst an, und das, was sie da hören, stellt den Hauptteil des Romans dar. Tante Rosamond, die Verstorbene, erzählt die Geschichte von Imogens Urgroßmutter, ihrer Großmutter und ihrer Mutter - und sie tut das anhand von zwanzig Fotos, auf denen auch sie, die entfernte Verwandte, immer wieder auftaucht.

Eine komplexe Konstruktion, wie gesagt, eine Konstruktion, die Jonathan Coe einiges an Kunstfertigkeit abverlangt: ein aus zwanzig Bildbeschreibungen bestehender Familienroman - das muss man als Romancier erst einmal hinkriegen.

"Ich mag es, wenn ich mir als Autor Einschränkungen auferlege. Das befreit mich. Was mich dagegen lähmt, ist das berühmte weiße Blatt Papier, auf dem ich alle Freiheiten habe - schrecklich! Dass ich den Plot aus zwanzig Fotos heraus entwickle, fokussiert die Erzählung. Ich bin auf die Idee gekommen, als ich eines Tages mit meinen beiden Töchtern im Familienalbum geblättert habe. Da muss ich den Kindern erklären, wer diese seltsamen Tanten und Onkel auf den Fotos sind, in welchen Häusern diese Menschen gewohnt und welche Autos sie gefahren haben. Beim Blättern in Fotoalben kann man ganze Familiengeschichten erzählen. Und das gleiche kann man natürlich auch in einem Roman machen."

Lieblosigkeiten zwischen Müttern und Töchtern

Es ist ein trauriges Buch, das Jonathan Coe geschrieben hat. Am Anfang steht eine Frau namens Ivy, eine relativ wohlhabenden Farmerin aus Shropshire, die das Tennis- und das Bridgespiel liebt, die ihre geliebten Söhne und ihre Hunde verzärtelt und ihre Tochter - wie es vorkommen soll - unentwegt demütigt und auf grausame Weise herabsetzt.

Die Handlung beginnt in den frühen Vierzigern, zur Zeit des Krieges. Und auf kunstvolle Weise beschreibt Coe, wie sich die Lieblosigkeit der Mutter ihrer Tochter gegenüber von Generation zu Generation fortsetzt, bis in unsere Tage hinein. Wie nebenbei entwickelt sich auch eine farbige Geschichte der englischen Alltagskultur, von den grauen, entbehrungsreichen Jahren des Kriegs bis zur grellbunten Selbstverwirklichungs-Manie der späten Sechziger.

Ein schönes, ein schwermütiges Buch, ein Buch, das einen melancholisch zurücklässt.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

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Das Buch der Woche, jeden Freitag, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 25. Jänner 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Jobathan Coe, "Der Regen, bevor er fällt", aus dem Englischen übersetzt von Andreas Gressmann, DVA