Zwischen Wall Street und Bible Belt

Politik der Paranoia

Robert Misiks Aufruf, dem neokonservativen Paradigma der Konkurrenz mit einer neuen Politik der Kooperation zu begegnen, vermag zu überzeugen. Vielleicht hat Misik damit sogar eine Streitschrift verfasst, die einer neuen Ära gewidmet ist.

Es ist ein weites Feld, das Robert Misik unter dem Titel "Politik der Paranoia" absteckt. In seinem neuen Buch widmet sich der streitbare Publizist dem neokonservativen Denken in all seinen Spielarten. Angesichts der allgegenwärtigen Finanzkrise und der Veränderung der politischen Großwetterlage ist der Zeitpunkt für diese Abrechnung vermutlich nicht schlecht gewählt.

Viele Gesichter
Mit seiner Kritik der neocons, also der neuen Konservativen, ist Misik einem Weltbild auf der Spur, das sich vor allem durch eines auszeichnet: innere Widersprüche, denn die neuen Konservativen haben viele Gesichter: Sie sind Wortführer eines larmoyanten Wertediskurses und beklagen den Verfall der Sitten und der bürgerlichen Familie. Sie sind Verfechter der neoliberalen Wettbewerbsdoktrin und verstehen sich zuweilen sogar als Gralshüter der Aufklärung, die gegen die drohende Islamisierung mobil machen. Misik bewegt sich kreuz und quer durch die Debatten, in denen sich das neokonservative Denken in den letzten Jahrzehnten breit gemacht hat - mit dem Ziel, die Inkonsistenz dieses Denkens sichtbar zu machen.

Der totale Werteverfall wird beklagt, oft aber nur ein paar Sätze weiter in Richtung muslimischer Einwanderungscommunities herrisch eingefordert, "sie" müssten sich zu "unseren" Werten bekennen. Nur, bitteschön, wie soll das gehen? "Sie" sollen sich zu etwas bekennen, was wir verloren haben?

Zahleiche Widersprüche

Auch das Reizthema Feminismus ist bei den neuen Konservativen mehrfach besetzt: Einmal wird der Emanzipation der Frauen, die von Mutterglück und Nestwärme nichts mehr wissen wollen, die Schuld an der demografischen Katastrophe in die Schuhe geschoben. Ein anderes Mal gilt es, den Feminismus als integralen Bestanteil der europäischen Gesellschaft gegen die drohende Islamisierung zu verteidigen. Ungereimtheiten wie diese breitet Misik genüsslich aus, um neokonservative Denkfiguren zu torpedieren, und schließlich die essenzielle Frage zu stellen:

Was sind eigentlich Konservative? (...) Sind Konservative nun Verbotsapostel, die für den starken Staat eintreten, oder freie Marktwirtschaftsfanatiker, die für einen schlanken Staat streiten? Sind sie gegen jeden Wandel oder nur gegen den Wandel, der ihnen nicht passt? Sind Neukonservative Schnösel, die über den hedonistischen Sittenverfall der breiten Masse die Nase rümpfen, oder Freunde des "einfachen Volkes"?

Verteidigung des Status quo

Was verbindet den Banker an der Wall Street mit dem Angehörigen einer christlich-fundamentalistischen Gemeinde im US-amerikanischen Bible-Belt? Was hält den neokonservativen Block wirklich zusammen? Die Antwort ist wenig überraschend: Fluchtpunkt neokonservativen Denkens, so Robert Misik, sei die Verteidigung des gesellschaftlichen Status quo: die Reproduktion der bestehenden Eliten und das Bestreben, soziale Ungleichheiten zu zementieren.

Neokonservative sind gegen ein progressives Steuersystem, das nach Einkommen gestaffelt ist, sie sind gegen staatliche Sozialhilfe und gegen eine Bildungspolitik, die die soziale Durchlässigkeit erhöht. Eine Politik der Umverteilung ist für Neokonservative vor allem eines: wettbewerbsverzerrend und im Sinne einer calvinistischen Arbeitsethik eine Bestrafung der Tüchtigen.

Demgegenüber vertritt Rober Misik einen bekannten linksliberalen Standpunkt und kontert, dass Ungleichheit nicht nur ungerecht, sondern auch ökonomisch unvernünftig sei. Die Zukunftsmärkte der postindustriellen Wissensgesellschaft verlangen nach qualifizierten Arbeiterkräften. Je mehr Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können, desto mehr Wertschöpfung entsteht für die gesamte Gesellschaft. So viel zu den bekannten Fronten.

Vielzahl an Themen

Auf welcher Seite er steht, darüber lässt Robert Misik keine Zweifel aufkommen.

Die neuen Konservativen geben in praktisch jedem Fall die falsche Antwort: Berufstätige Frauen beschimpfen sie als maskulinisierte, egoistische Emanzen, qualitativ hochstehende Kinderbetreuung werden als Institutionen zur "Verstaatlichung der Kinder" verächtlich gemacht, Anstrengungen zur Garantie gleicher Lebenschancen werden als Gleichmacherei verschrien und ein Steuersystem, das dazu dient, das Geld für all die notwendigen staatlichen Ausgaben bereit zu stellen, wird als "konfiskatorisch" kritisiert. Jeder einzelne Vorschlag der Konservativen ist schädlich und zwar für so ziemlich jeden von uns.

Mit "Politik der Paranoia" legt Robert Misik einen ziemlich dichten Text vor, der eine Vielzahl an Themen streift: Lifestyle-Kapitalismus und Kunstmarktboom, neoliberale Gründungsväter und Keynesianismus - um nur einige der Themen zu nennen, die auf gerade mal 195 Seiten zur Sprache kommen. An mancher Stelle hätte der Mut zur Lücke jedenfalls nicht geschadet.

Trotz dieses Einwands: Robert Misiks neues Buch ist lesenswert und sein Aufruf, dem neokonservativen Paradigma der Konkurrenz mit einer neuen Politik der Kooperation zu begegnen, vermag zu überzeugen. Vielleicht hat Misik eine Streitschrift verfasst, die einer neuen Ära gewidmet ist, denn dem Hoffnungsträger der Stunde überlässt er das letzte Wort und so mündet "Politik der Paranoia" in der optimistischen Botschaft: Yes, we can!

Hör-Tipps
Von Tag zu Tag, Donnerstag, 26. Februar 2009, 14:05 Uhr

Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Robert Misik, "Politik der Paranoia. Gegen die neuen Konservativen", Aufbau-Verlag

Links
misik.at
Aufbau Verlag - Politik der Paranoia