Im Bewusstseinsstrom der Leopoldstadt
Was kommt
Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2007 hat Thomas Stangl - noch unveröffentlichte - Auszüge aus seinem Roman "Was kommt" gelesen und dafür den Telecom-Preis erhalten. Jetzt ist das ganze Buch erschienen.
8. April 2017, 21:58
Sein Erstling wurde 2004 mit dem Aspekte-Preis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet, und auch der gemeinhin als besonders schwierig geltende zweite Roman des jungen Autors Thomas Stangl wurde im Feuilleton von Zürich bis Hamburg begeistert aufgenommen. Mit einem Auszug aus seinem dritten, noch unveröffentlichten Buch gewann er vor eineinhalb Jahren den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Die Erwartungen an Thomas Stangl und seinen dritten Roman, der nun unter dem Titel "Was kommt" vorliegt, sind naturgemäß hoch.
Einiges wird den Lesern seines bisherigen Werks darin bekannt vorkommen: Mit der erinnerungsschweren Wiener Leopoldstadt, die er gegen das mythenumrankte Timbuktu seines Debüts eingetauscht hat, bleibt Stangl seinem letzten Schauplatz ebenso treu wie Emilia Degen, die als alternde Journalistin eine der Hauptfiguren des vorigen Romans war - nur ist sie jetzt ein junges Mädchen.
Emilias Frühlingserwachen
"Emilia Degen taucht an einem Tag im Frühling 1937 auf", heißt es in "Was kommt". Sie ist 17 und erlebt ihr persönliches Frühlingserwachen. Die einsame Jugendliche, die bei ihrer Großmutter lebt der Vater ist ausgewandert, was mit der Mutter passiert ist, wissen wir nicht - lernt den jüdischen Buchhändlersohn und Kommunisten Georg kennen. Aus einer behutsamen Annäherung wird eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Die bis dahin zurückgezogen lebende Emilia blüht emotional und körperlich auf und entwickelt politisches Interesse. Mit Georg nimmt sie an illegalen Treffen teil, besucht verbotene Jura-Soyfer-Theaterabende.
Emilias Geschichte ist alles andere als geradlinig erzählt. In Klammern gesetzte Anmerkungen bremsen den Lesefluss in ohnehin schon hochkomplexen Satzgefügen, Vorausverweise machen früh deutlich, dass diese Geschichte keine Zukunft haben darf. "Die Kaffeehäuser, Theater, Buchhandlungen, Kinos sind zu dieser Zeit noch nicht geschlossen oder zerstört, es ist der einzige Sommer ihres Lebens", heißt es einmal.
Liebe in der Leopoldstadt
Wichtigster Schauplatz dieser viel zu kurzen Liebesgeschichte ist der zweite Wiener Gemeindebezirk, die jüdisch geprägte Leopoldstadt mit ihren prachtvollen Häusern am Donaukanal. Der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland setzt der jungen Beziehung ein jähes Ende. Georgs Eltern werden deportiert, er selbst verschwindet spurlos. "Jetzt sind wir unter uns", meint Emilias Deutschlehrer, als ein Drittel seiner Schüler plötzlich fehlt.
Kryptisch gibt sich der Geschichtelehrer: "Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei", sagt er, "Geschichte heißt, das kommt erst." Was da alles auf Emilia zukommt, wird von nun an konsequent im Futur erzählt. Sie erlebt die neue Zeit wie unter Betäubung, klammert sich an die Hoffnung, dass Georg die Flucht gelungen sein könnte. Der ernüchternde Kommentar des Erzählers: "Es wird fast acht Jahre dauern, bis sie sicher ist, dass sie ihn nie mehr sehen wird." Der Stadtteil, in dem sie die Zeit mit Georg verbracht hat, wird vom Krieg ausgelöscht. Emilia wird ihr ganzes Leben lang versuchen, "den Moment zu wiederholen, in dem sie gelebt haben, in dem sie gelebt hat, den Moment, der ein Leben rechtfertigt."
In der Entwicklung stehen geblieben
Andreas Bichler, dessen Geschichte abwechselnd mit der Emilias erzählt wird, wächst in der gleichen und doch in einer ganz anderen Stadt auf: im Wien der späten 1970er Jahre. Auch Andreas, Andi genannt, ist 17, und wie Emilia lebt er bei einer Großmutter. Seine Eltern sind bei einem Autounfall zehn Jahre zuvor gestorben.
Andi hat diesen Verlust nie verkraftet, in seiner psychischen Entwicklung ist er in der magischen Phase steckengeblieben. Er lebt in einer Welt aus kindlichen Zwangsvorstellungen, was aber niemand merkt. Seine Mitmenschen hält er durch Schweigen und gelegentliche schockierende Sätze auf Distanz. Er nennt das "Wörter vor die Angst stellen."
Vom Außenseiter zum Ausgestoßenen
Ähnlich, wie Emilia durch Georg zum politischen Engagement ermutigt wird, wollen zwei Klassenkameraden den Einzelgänger überreden, sich mit ihnen gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf zu engagieren. Im Gegensatz zu Emilia schafft es Andi jedoch nicht, die selbst errichtete Barriere zu durchbrechen. Er schockiert seine Mitschüler durch einen reflexartig aus ihm herausbrechenden antisemitischen Satz und wird vom Außenseiter zum Ausgestoßenen. Als kurz darauf die Großmutter stirbt, wofür sich Andi auf kindliche Weise verantwortlich fühlt, verliert er jeden Kontakt zur Außenwelt. Seine zunehmende Verwahrlosung mündet in kaum erträglichen Szenen der Selbstzerstörung.
Zahlreiche Assoziationen drängen sich beim Lesen dieses Protokolls eines scheiternden Lebens auf: In seiner Intensität und Sensibilität lässt es an die Literatur des Kinderpsychiaters Paulus Hochgatterer denken, in der alptraumhaften Wucht mancher Passagen an den ebenfalls Ende der 1970er Jahre entstandenen Pink Floyd-Film "The Wall". Die psychedelische Wirkung mancher Bilder, die die Grenzen von Raum, Zeit und Persönlichkeit ins Schwimmen bringen, erinnert wieder an David Lynch - dessen erster Film übrigens den Titel "The Grandmother" trägt.
Vergangenheit und Zukunft nebeneinander
Thomas Stangls komplexe, sorgfältig komponierten Sätze, die oft wie Prosagedichte wirken und in denen auch einmal zwei Klammerausdrücke zusammenstoßen können, zwingen zu konzentriertem, oft mehrfachem Lesen. Und selbst dann wird man so mancher Passage, in der sich Phantasien, Zukunftsvisionen, Träume und Wahnvorstellungen in die Realität Emilias und Andis mischen, rein intellektuell nicht beikommen.
Zumindest für die Dauer des Romans ist jegliche Chronologie aufgehoben, stehen Vergangenheit und Zukunft auf unheimliche Weise gleichberechtigt nebeneinander, überlappen sich die Zeitebenen. Die durch vier Jahrzehnte getrennten Romanfiguren begegnen und beobachten einander, als gäbe es Zeitfenster, durch die sie die Epoche wechseln können.
Dieses Erzählverfahren erzeugt zwangsläufig Momente des Nicht-Verstehens. Es bleibt einem als Leser dann nichts anderes übrig, als sich Stangls Satz- und Bilderflut anzuvertrauen und sich von ihr so lange tragen zu lassen, bis man wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren glaubt. Thomas Stangls neuer Roman verunsichert, fasziniert und wirkt lange nach. Mehr kann man von Literatur nicht verlangen.
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Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 15. Februar 2009, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Thomas Stangl, "Was kommt", Droschl Verlag