Die Ableitung von Erkenntnis und Selbstwert
Ich bin Ich
Durch die Unterscheidung, der ein Vergleich vorausgehen muss, werden Wahrnehmungen differenziert und Erkenntnisse gewonnen. Bei jedem Vergleich kann es zur Abwertung eines Objekts kommen. Ein Vergleich der Ungleichheit lässt sich nicht neutral ausdrücken.
8. April 2017, 21:58
"Blüh wie das Veilchen im Moose." Dieser Ratschlag im Poesiealbum vieler Mädchengenerationen ist vom kleinen "Ich bin Ich" in Mira Lobes gleichnamigem Kinderbuch abgelöst worden. Anstatt sich anzugleichen, sollen Heranwachsende dazu stehen, wie sie sind.
Aber wie können sie herausfinden, wie sie sind? Auch das kleine "Ich bin Ich" kann nicht umhin, sich mit anderen Tieren zu vergleichen, Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, um darüber zu einem differenzierten Selbstbild zu gelangen.
Ohne Vergleichskategorien kein Vergleich
Der Vergleich ist die Voraussetzung jeder Erkenntnis. Schon die einfachste Form des logischen Schlusses, der Syllogismus, kann ohne Vergleichskategorien, die bestimmte Elemente einer bestimmten Menge zuordnen, nicht durchgeführt werden.
Einfacher gesagt: "Alle Griechen sind sterblich, Sokrates ist ein Grieche, also ist Sokrates sterblich" wäre sinnlos, wenn wir das Element Sokrates nicht mit den Kriterien vergleichen könnten, die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Menge der Griechen sind.
Wie also bin ich oder sind Griechen vergleichsweise?
Der amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger entwickelte 1954 eine Theorie der sozialen Vergleichsprozesse, die mit einigen Adaptierungen bis heute die Grundlage vieler weiterführender Untersuchungen bildet. Er postulierte, dass wir unsere Fähigkeiten, Meinungen und Wahrnehmungen mit denen anderer Personen vergleichen müssen, um durch ständige Abgleichung ein gemeinsames Realitätsverständnis herzustellen, auf dessen Basis wir sinnvoll kommunizieren und interagieren können.
Das kann allerdings zu paradox anmutendem Verhalten führen, wie die US-Psychologen John Darley und Bibb Latané 1968 in einer Studie gezeigt haben: Sollten Sie nämlich einen Unfall erleiden, bei dem Sie Hilfe benötigen, ist es von Vorteil, wenn jemand in der Nähe ist, aber von Nachteil, wenn es viele sind.
Denn wenn die anderen nur zuschauen, dann zieht jeder für sich allzu leicht den Schluss, dass Einschreiten nicht angemessen wäre. Das Ereignis wird mittels Abgleichen mit den Reaktionen der Nächststehenden interpretiert.
Aufwärts- und abwärtsgerichteter Vergleich
Ein weiterer interessanter Aspekt der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse ist es, zu zeigen, wie Individuen mittels gezielter - wenn auch manchmal unbewusster - Vergleichskonstruktionen ihr Selbstbild beeinflussen. Die eigene Position kann mittels eines Vergleichs mit sozial als höher oder mit sozial als niedriger eingestuften Personen bestimmt werden.
Man unterscheidet demnach zwischen aufwärts- und abwärtsgerichteten Vergleichen. Aufwärtsgerichtete Vergleiche inspirieren dazu, die eigenen Fähigkeiten und die persönliche Lebenssituation verbessern zu wollen, sie bergen jedoch die Gefahr, den Selbstwert zu bedrohen.
Ein Umstand, der möglicherweise einen Erklärungsansatz für die rasant zunehmende Anzahl psychischer Erkrankungen liefert: Im Einklang mit der Wettbewerbsgesellschaft setzt die Globalisierung das Vergleichsmaß immer höher an. Das jüngste Universitätsranking beispielsweise orientierte sich an Harvard, das über rund 45.000 US-Dollar Studiengebühr pro Student und Semester verfügt.
Da bleibt dem Großteil der Mitbewerber und Mitbewerberinnen nur die Resignation, die aber in einer Gemeinschaft, die nur vom Wettbewerb zusammengehalten wird, tabu ist. Eher wird die Auflösung der Gesellschaft oder des Sportlerkörpers in Kauf genommen, wie der Rechtsphilosoph Christopher Pollmann anmerkt, als der Wettbewerb eingestellt, dessen vordergründiges Ziel im Wirtschaftswachstum liegt.
Das Problem der Äquivalenz
Mit der Tauschwirtschaft kommt nun das Problem der Äquivalenz in den Vergleich, das schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschäftigte: "… alles, was ausgetauscht werden soll, (muss) irgendwie vergleichbar sein. Dazu nun ist das Geld in die Welt gekommen, und so wird es zu einer Art von Vermittler; denn an ihm wird alles gemessen …".
Was unbezahlt ist, wie die Familienarbeit, kann in diesem System aber nicht gemessen, bewertet und in den Wettbewerb miteinbezogen werden. Hierin liegt das feministische Dilemma zwischen Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus.
Auf der Suche nach "minderwertigen" Gruppen
Als stabilisierend für den Selbstwert erweist sich der abwärts gerichtete Vergleich und dieser kann, wie Festinger bemerkte, aktiv oder passiv geführt werden. Passiv wäre es z. B., sich an Mitschülern mit einer schlechteren Beurteilung zu orientieren, aktiv, die bessere Beurteilung von Mitschülern in Zweifel zu ziehen, zu bestreiten oder abzuwerten.
Gesellschaftsdynamisch vollzieht sich dieser Vorgang, indem Gruppen, die für sich keine Chance sehen, mittelfristig einem Vergleich nach oben standzuhalten, ihr Selbstwertgefühl durch die Konstruktion "minderwertiger" Gruppen zu stabilisieren versuchen.
Selbstkomplexität
Den besten Schutz vor Minderwertigkeitsgefühlen durch aufwärts gerichtete Vergleiche bietet - psychologischen Erkenntnissen gemäß - Selbstkomplexität. Wer seinen Selbstwert auf ein einziges Attribut stützt, etwa auf ökonomische Potenz, verfügt nur über ein labiles Gleichgewicht.
Wer dagegen einen komplexen Kriterienkatalog heranzieht, für den ist ein kritischer Vergleich nicht mehr als eine Anregung, den einen oder anderen Aspekt seines Lebenskonzepts zu überdenken.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 16. Februar bis Donnerstag, 19. Februar 2009, 9:05 Uhr