Gegen die Welt des Normierten
Zerfallene Welt
Literaturwissenschaftler fordern textnahe Interpretationen von experimentellen Werken der Literatur. Wesentlich ist eine behutsame Annäherung, die nicht von der Absicht geleitet wird, den Text vollständig zu erklären.
8. April 2017, 21:58
Texte, die den Zerfall der modernen Welt thematisieren: Isolation, Melancholie, Obsessionen, Wahnsinn und Selbstmord . Einige Namen dazu: Gottfried Benn, James Joyce, Samuel Beckett oder Paul Celan.
Literaturwissenschaft hat bei solchen Texten, die von den Rändern des gesellschaftlichen Kontextes her geschrieben sind, die Aufgabe, diese Provokationen des Normalbewusstseins als solche wahrzunehmen und sie nicht einer nivellierenden, methodischen Interpretation zu unterziehen.
Literaturwissenschaft als Werkzeugkiste
Werner Hamacher, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main, empfiehlt den professionellen Interpreten, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen; er ist davon überzeugt, dass sich Kunstwerke nicht erschließen lassen, sondern immer ihren Rätselcharakter beibehalten.
Das Kunstwerk hat die Aufgabe, fest verankerte Weltanschauungen zu erschüttern. Literatur heißt Tabubruch, Regelverstoß und Verstörung, die verletzt und Wunden hinterlässt. Seine Arbeit vergleicht Hamacher mit einer Werkzeugkiste, die es dem Benützer ermöglicht, eigenständig die Komposition eines Textes zu entdecken.
Literaturwissenschaft als Infragestellung des Autors
Der Literaturwissenschaftler Felix Philipp Ingold spricht sich dafür aus, dass literarische Texte ohne Angabe des Autorennamens publiziert werden sollten. Auch die Vorstellung eines autonomen Autors, der die Kunstwerke seiner Imaginationskraft verdankt, ist für Ingold obsolet geworden. Er sieht vielmehr den Autor als Arrangeur, der Vorgefundenes aufnimmt, um es durch Verfremdung, durch Umwandlung neu zu arrangieren.
Literatur als Erschließung des Unbewussten
Als Prototyp solch eines Autors gilt der irische Schriftsteller James Joyce. Sein monumentaler Roman "Ulysses", schildert einen Tag im Leben des Dubliner Kleinbürgers Leopold Bloom.
Die eigentliche Innovation des Werks war die Beschreibung des Bewusstseinstroms, der bis in die Bereiche des Unbewussten reicht. Joyce schildert jenes unaufhörlich ständig fließende Konglomerat aus psychischen Vorgängen, Wünschen und Triebregungen, ohne dabei die übliche Zensurbehörde der Moral einzuschalten. Damit provozierte er die Öffentlichkeit, sein Roman wurde zeitweise verboten.
Der Rätselcharakter des Kunstwerks
Paul Celan und Samuel Beckett gelten für einige Literaturwissenschaftler und Philosophen wie Theodor W. Adorno als die Höhepunkte einer Literatur, die in sich verschlossen, rätselhaft ist.
Die Gedichte Celans und die Romane und Theaterstücke Becketts erweisen sich als deutungsresistent. Eine Literaturwissenschaft, die sich seriös auf diese Kunstwerke einlassen will, sollte den Ratschlag des Literaturtheoretikers Peter Szondi befolgen: "Ein hermetisches Kunstwerk muss in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden. Es ist ein Schloss, das immer wieder zuschnappt; die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen."
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 2. März bis Donnerstag, 5. März 2009, 9:30 Uhr
Buch-Tipps
Bernhard Böschenstein, "Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin bis Celan", Wilhelm Fink Verlag
Jörg Drews und Doris Plöschberger, "Des Dichters Aug in feinem Wahnwitz rollend… Dokumente und Studien zu Zettels Traum", Verlag Text und Kritik
Werner Hamacher, "Heterautonomien", Diaphanes Verlag
Christiaan Hart-Nibbrig, "Die Auferstehung des Körpers im Text", Edition Suhrkamp, Band 1221
Felix Ingold, "Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur", Wilhelm Fink Verlag
Felix Ingold, "Das Buch im Buch", Merve Verlag
Helmut Lethen, "Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit", Rowohlt Verlag
Christine O`Neill, "Zerrinnungen. Fritz Senn zu James Joyce", Neue Zürcher Zeitung Libro
Werner Spies, "Auge und Wort". Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur in 10 Bänden, Berlin University Press
CD-Tipp
Paul Celan, "Ich hörte sagen", Gedichte und Prosa, Lesungen im Originalton, Der Hörverlag
Gottfried Benn, "Einsam wie nie", Gedichte und Prosa im Originalton, Der Hörverlag