Opfer der Roten Armee?

Leichen unter dem Luxushotel

Polen wird wieder einmal von der jüngeren Geschichte eingeholt: Mitten in der Stadt Malbork stieß man im Herbst auf ein Massengrab mit über 1800 Leichen aus der Zeit um 1945. Rasch wurde klar, dass es sich um ehemalige deutsche Bewohner der Stadt handelt.

Vor allem die älteren Bewohner der 80 Kilometer von Danzig entfernten nordpolnischen Stadt Malbork sind erschüttert. Am Fuße der alten Kreuzritterburg, dem Wahrzeichen des bis 1945 preußischen Marienburg, hatten sich ein Kino und ein beliebtes Bierlokal befunden, bis das Gelände für den Bau eines neuen Luxushotels eingeebnet wurde. Niemand ahnte, dass nur wenige Meter unter der Erde die Gebeine von mehr als 1.800 Menschen lagen.

Eingeholt von der Vergangenheit

Seit Mai 1945 ist das ehemalige Marienburg polnisch. Als im Rahmen einer gewaltigen Übersiedlungsaktion die ersten Flüchtlingskonvois mit Polen aus Gebieten im Osten eintrafen, die nunmehr zur Sowjetunion gehörten, waren die früheren deutschen Bewohner schon weg. Im Oktober des Vorjahres hat die Vergangenheit die 40.000 Einwohnerstadt Malbork wieder eingeholt.

Bei der Aushebung einer Baugrube für das neue Hotel stießen Arbeiter auf einen menschlichen Schädel. Als sie mit einer Spitzhacke weitergruben, fanden sie die Gebeine weiterer 66 Menschen. Die Stadtregierung schaltete die Staatsanwaltschaft ein. Archäologische Untersuchungen ergaben, dass die Gebeine aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stammen.

1.900 Leichen ohne Kleider

Doch das war erst der Anfang. Ende November stießen die Bauarbeiter bei tieferen Grabungen auf weitere Knochen. Die Staatsanwaltschaft musste den schon abgeschlossen geglaubten Fall neuerlich aufrollen. In den ersten Wochen habe man pro Tag mehr als 100 Skelette ausgegraben, erzählt einer der Arbeiter.

Inzwischen konnten unter Leitung des Archäologen des Burgmuseums die Überreste von fast 1.900 Menschen geborgen werden. Eine schwierige Aufgabe für Zbigniew Sawicki, der eigentlich Spezialist für das Mittelalter ist: "Neben den Gebeinen haben wir keine persönlichen Gegenstände gefunden, keine Bekleidung, nicht einmal einen Knopf. Das ist eines der großen Rätsel. Vielleicht wurden die Kleider für andere Menschen gebraucht? Es war ja furchtbar kalt damals, vielleicht haben die Leute den Leichen deshalb die Kleider abgenommen?"

Vermisste Opfer der Roten Armee?

Als sicher gilt bisher nur, dass das Massengrab aus den ersten Monaten des Jahres 1945 stammt und dass es sich um deutsche Opfer handelt. Im Jänner 1945 herrschten tiefe Minustemperaturen. Hitlers Wehrmacht war geschlagen. Marienburg wurde, wie andere Städte im Osten des Deutschen Reiches, in Erwartung eines raschen Vormarsches der Roten Armee zur "Festung" erklärt. Panzer- und Laufgräben wurden ausgehoben, und Bunker errichtet.

Die Kämpfe dauerten fast sechs Wochen. Straße um Straße, Haus um Haus, fielen an die Sowjets. Der Zivilbevölkerung fehlten Nahrungsmittel und Medikamente, eine Typhusepidemie soll ausgebrochen sein. Wie überall auf ihrem Weg zeigten sich die Rotarmisten auch in Marienburg nicht zimperlich im Umgang mit den Feinden. 1840 Marienburger Deutsche gelten seither als vermisst. Das Massengrab am Fuße der Kreuzritterburg könnte die Unsicherheit von Angehörigen, die nach ihren Liebsten suchten, zu tragischer Gewissheit werden lassen.

Rätsel um Einschusslöcher

Trotzdem bleiben viele Fragen noch offen. Warum weisen etwa ein paar vereinzelte Schädel Einschusslöcher auf? Der Archäologe Sawicki hält diese für zufällige Opfer von Kampfhandlungen. Jerzy Fryc, Hobbyhistoriker und Vertreter der deutschen Minderheit in Malbork, vermutet hingegen, dass die Schädel mit Einschusslöchern von Deutschen stammen, die von den Rotarmisten für die Aufräumarbeiten eingesetzt und dann erschossen wurden, um keine Zeugen zu hinterlassen.

Dass Polen hinter diesem möglichen Verbrechen standen und ihre Opfer in das Massengrab in Marienburg verscharrten, wie anfangs in deutschen Medien spekuliert worden war, halte den Fakten nicht stand, meint Fryc, denn an der Eroberung von Marienburg habe keine einzige Einheit des polnischen Heeres teilgenommen.

Ein Brief lässt erahnen

Vor wenigen Tagen erhielt der Bürgermeister von Malbork einen Brief von einer Zeitzeugin, die damals zehn Jahre alt war:
"...am 21. Jänner 1945 um fünf Uhr Nachmittag marschierten Rotarmisten in unserer Straße ein. Vierzehn Tage dauerten die Straßenkämpfe, tagsüber waren die russischen Soldaten da, nachts die deutschen. Es war die Hölle. Die Russen nahmen vierzehn junge Frauen mit, auch meine Tante und meinen Bruder. Wir wissen bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist. Als die letzten Kämpfe tobten, wurden wir sechzehn Kilometer weiter nach Altmarkt gebracht. Acht Wochen später kamen wir zurück: überall Leichen, es war schrecklich. Die Russen verpflichteten die noch verbliebenen Deutschen, die Leichen, die wie Heringe nebeneinander lagen, von den Straßen zu räumen. Auch meine Mutter musste mitmachen. Die bekleideten Leichen wurden auf Handwagen weggeschafft, dann wurden sie alle einfach aufeinander geworfen und mit Chlor überschüttet. Was danach geschah, weiß ich nicht. Sind wirklich keine Kleidungsstücke gefunden worden?"

Allabendlich liefert ein Lastwagen auf dem Gelände des Gemeindefriedhofs von Malbork schwarze Leichensäcke mit Gebeinen ab. Bis weitere Untersuchungen aufgenommen werden, bleiben sie in zwei garagenähnlichen Blechschuppen liegen.

Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 27. Februar 2009, 18:20 Uhr