Porträt Yvette Z'Graggen
Eine ungewöhnliche Frau
"Ich war ein Einzelkind, sehr schüchtern. Weil ich mich nicht zu sprechen getraute, begann ich zu schreiben. Damals war ich sieben." Nächstes Jahr wird sie 90, und ihr jüngstes Buch "Lebenssplitter", Erinnerungen, soll auch ihr letztes bleiben.
8. April 2017, 21:58
Yvette Z'Graggen wird von den Schweizern geliebt. Weil sie so nah am Leben schreibt. Weil es ihr nichts ausmacht, dass man sie für banal halten könnte. Weil das, was sie schreibt, nahe geht, weil man selbst ähnliches erlebt hat, oder auch nur am Rande miterlebt hat. Eine Frau, die zuhören kann und dieses Gefühl weitergibt, dass man durch ihre Texte wieder erfahren hat, was es heißt, auf jemanden zu hören. Gelassenheit zu leben.
Unumstößliche Vorstellungen
Yvette Z'Graggen wurde am 31. März 1920 in Genf geboren. Ihr Vater kam aus einem kleinen Dorf im Kanton Glarus, ihre Mutter stammte aus einer Wiener Familie. Es war eine gutbürgerliche, wohlbehütete Atmosphäre, in der die kleine Yvette aufwuchs, und dennoch einschüchternd. Man hatte seine Vorstellungen, und die waren unumstößlich. So wurde zum Beispiel nie erwähnt, dass der Vater ihres Vaters Fleischhauer war. Das war unanständig, man schämte sich dafür.
Zwölf Jahre war Yvette, als sie an der Hand ihres Vaters zum ersten Mal ihre dörflichen Verwandten besuchte: ein Schock, denn sie verstand ... nichts. Deutsch war für das Mädchen schon schwierig genug, und dann erst der bodenständige Dialekt! Dazu kamen die familieninternen Vorbehalte. Erst mit 60, erzählte sie, gelang es ihr, das unangenehme Gefühl beiseite zu schieben und ihre Neugier zuzulassen.
Brieffreund in Buch verewigt
Ihre Neugier gewann schließlich immer die Oberhand, auch wenn es rund um sie üblich war, wegzusehen oder zu schweigen. Und irgendwann, wenn sie selbst lange darüber nachgedacht, wenn sie für sich verarbeitet hatte, schrieb sie nieder, was sie erfahren hatte.
Da war dieser junge Deutsche, den sie knapp vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kennen lernte. Bis 1949 schrieben sie einander Briefe. "Ich bin kein Verbrecher", las sie, nachdem er aus der russischen Gefangenschaft nach Hause zurück gekehrt war. "Ich bin kein Verbrecher" - dieser Satz wurde die Basis ihres Romans "Matthias Berg". Ein vom deutschen Regime als Soldat missbrauchter junger Mann überlebt, weil er an ein Danach mit seiner Liebe glaubt. Doch als er nach der Gefangenschaft endlich nach Hause kommt, ist von der Liebe seiner Beate nichts mehr übrig geblieben, und von seiner Liebes- und Lebensfähigkeit auch nicht. Mehr als 50.000 Mal wurde "Matthias Berg" verkauft, ein ungemein erfolgreicher Roman.
Jahre des Schweigens
Ähnlich erging es ihr mit der Rolle, die die Schweiz im Zweiten Weltkrieg spielte. Sie arbeitete zwar für das Internationale Rote Kreuz, hatte aber keine Ahnung, was wirklich geschah an den Schweizer Grenzen. Sie war davon überzeugt, dass alle, die um Hilfe baten, diese Hilfe auch bekamen, in irgendeiner Weise. Was sie dann durch den Film von Mathias Imhoof "Das Boot ist voll" erfuhr, war für sie ein Schock, mindestens ebenso groß wie jener, als sie von den Vernichtungslagern erfahren hatte. "Die Jahre des Schweigens" nannte sie das Buch, in dem sie diese Tatsachen bewältigte.
Vergleichsweise harmlos erscheint dagegen "La Punta", der Roman über das alte Ehepaar, das an der Südküste Spaniens ein neues Leben beginnen will. Aber die Harmlosigkeit ist Oberfläche, sie verhüllt und entblößt Schweizer Arroganz - den Umgang mit den Alten - und Schweizer Borniertheit, den Unmut und die Unfähigkeit, anderes als Schweizerisches zuzulassen.
Das Kind, das man war
Ihr jüngstes, letztes Buch entstand ungeplant. Sie wollte nie Erinnerungen schreiben, dazu fühlte sie sich zu unwichtig. "Lebenssplitter" hätte eine kleine Serie in einer Sonntagszeitung werden sollen. Als die Zeitung dann doch nicht interessiert war, hatte Yvette Z'Graggen längst schon Gefallen daran gefunden, sich in ihre Kindheit zurück zu versetzen, denn: "Auch wenn man wie ich unglücklicherweise sehr alt ist, bleibt man doch immer das Kind, das man einmal war."
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 26. Februar 2009, 11:40 Uhr
Buch-Tipps
Yvette Z'Graggen, "La Punta", Lenos Verlag
Yvette Z'Graggen, "Matthias Berg", Lenos Verlag
Yvette Z'Graggen, "Die Jahre des Schweigens", Lenos Verlag
Yvette Z'Graggen, "Lebenssplitter". Lenos Verlag
Links
culturactif - Yvette Z'Graggen
DRS - Yvette Z'Graggen - "Lebenssplitter"