Wut und Enttäuschung

Apostoloff

Sibylle Lewitscharoff nimmt den Leser mit auf eine Reise durch Bulgarien aus dem Blickwinkel einer kritischen und wütenden Erzählerin. Gerade dieser Blickwinkel verleiht dem Roman einen rabenschwarzen und unwiderstehlichen Humor.

"Ich denke, dass ein Vater, den man unter traumatischen Umständen verloren hat, das ist eine Geschichte, die in jedem Lebensalter neu und anders belebt wird, das ist eine Art inneres Drama, das sich mal friedlicher, mal aggressiver zeigt, aber der Ausgang ist offen, bis man selber im Grab liegt."

Mit diesem inneren Drama befasst sich Sibylle Lewitscharoff in ihrem neuen Roman "Apostoloff": Zwei Schwestern aus Stuttgart fahren durch Bulgarien, durch das Land ihrer Vorfahren, das Land ihres Vaters. Aber während die eine höflich die Gegend bewundert, sieht die andere die Reise als eine Gelegenheit, abzurechnen, mit ihren Wurzeln und vor allem mit dem Vater, der sich erhängt hat.

Schwere Kränkung

Mit einer Gruppe von Bulgaren war der Vater in den 1940er Jahren nach Stuttgart gekommen, er heiratete, bekam zwei Töchter, praktizierte als Arzt - und erhängte sich schließlich, nach einer Zeit der Schwermut und zwei gescheiterten Selbstmordversuchen in der Badewanne. Die bulgarischen Verwandten spinnen Mordtheorien, der Geheimdienst habe ihn umgebracht, heißt es, oder: Seine deutsche Frau sei schuld an seinem Tod.

In dieser Atmosphäre wuchsen die beiden Schwestern auf und die eine kann dem Vater nicht verzeihen, dass er sie verlassen hat. "Es ist nicht so sehr Wut, es ist Enttäuschung", erklärt Sibylle Lewitscharoff im Gespräch. "Wenn Sie einen Vater in frühen Jahren durch Selbstmord verlieren, bleibt so etwas wie eine schwere Kränkung und Enttäuschung zurück. (...) Wenn ein Mensch früh an einem Unfall oder an einer Krankheit stirbt, dann ist das sicher auch eine große Tragödie, aber man kann es ihm nicht anlasten. Selbstmord ist etwas anderes."

Fahrt durch Bulgarien

Ihre Wut und die dahinter liegende Enttäuschung projiziert die Erzählerin auf das Land: Sie hasst Bulgarien, die Sprache ist für sie "die abscheulichste von der Welt", die deutsch-bulgarische Freundschaft bezeichnet sie als "Freundschaft aus Lügen, Eisen und Blech". Dennoch ist sie mitgefahren, als der Letzte der bulgarischen Gemeinde in Stuttgart einen Limousinenkonvoi organisierte, der die Leichen der Exilbulgaren, auch die des Vaters, in ihre Heimat zurückbrachte.

Nun sind die Schwestern als Touristinnen unterwegs, werden vom Patensohn ihres Großvaters, Rumen Apostoloff, durch Bulgarien chauffiert. "Rumen ist unser Hermes", meint die Erzählerin und tatsächlich hat er die Funktion eines Mittlers, in sprachlicher wie auch in kultureller Hinsicht:

"Das ist ein Bulgare, der auch etwas Gewinnendes hat, der geduldig ist, den sich den auch aggressiven Tiraden der einen Schwester und der milden Zuneigung der anderen irgendwie geschickt entzieht und aussetzt", erklärt Lewitscharoff. "Insofern ist er eine freundliche Mittlerfigur, der durch dieses Land leitet und auch, im Entfernten aber nur, gewisse Züge des Vaters wieder aufleben lässt."

Autobiografische Züge

Sibylle Lewitscharoff wuchs selbst als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter in Stuttgart auf und so sind in ihrem Roman auch autobiografische Anklänge vorhanden: Die Figur des Vaters etwa ist lose an ihren eigenen Vater angelehnt, und auch die Erzählerin trägt Züge der Autorin: "Sie hat mit mir zu tun, nur ist sie in diesem Schwesternpaar zugespitzter", sagt Lewitscharoff. "Ich bin nicht so aggressiv im Umgang, ich bin doch etwas milder und freundlicher, aber sie teilt doch sehr viele meiner Ansichten. Also im Wesentlichen den Blick auf das Land, da sind wir doch - würde ich sagen - sehr nahe, wenn nicht identisch."

Und so nimmt Lewitscharoff den Leser mit auf eine Reise durch Bulgarien aus dem Blickwinkel einer unbezähmbaren, kritischen und wütenden Erzählerin - und gerade dieser Blickwinkel verleiht dem Roman einen rabenschwarzen und unwiderstehlichen Humor. Während die Schwester auf der Rückbank schimpft und tobt, entsteht nach und nach ein differenziertes Bild vom Land wie auch von den Charakteren.

Die Fahrt über staubige Landstraßen wird ergänzt von der Reise der Erzählerin in ihre eigene Vergangenheit und in ihr Inneres. Dabei hat Sibylle Lewitscharoff ihre Handlung gar nicht so genau geplant, vieles ergab sich quasi von selbst, sagt sie: "Ich wusste nur, dass ich die beiden Reiseebenen, dass ich die beiden Reisezüge am selben Punkt losfahren lassen muss und wieder zurückbringen muss, soweit war es mir klar, aber dazwischen ergab sich doch immer wieder die eine oder andere Schleife. Es wurden auch Kapitel wieder in den Papierkorb geworfen; also da gab es schon mehr Hin und Her, das war ein bisschen eine offene Konstruktion. Ich wusste nicht, was so genau daraus wird."

Analyse menschlicher Gefühlswelten

Schließlich kann sich sogar die Erzählerin wenigstens ansatzweise mit ihrer Herkunft aussöhnen, wenn sie auch unnachgiebig bleibt und in einem "gutmütig gepflegten Hass" den besten Umgang mit den Toten sieht. Und so ist Sibylle Lewitscharoffs Buch auch und vor allem eine elegant formulierte und scharfsichtige Analyse menschlicher Gefühlswelten.

"Ich wäre froh, wenn ein Leser subtil genug ist, dass er das dahinterliegende Gebilde erkennt", hofft Lewitscharoff, "dass er die Enttäuschung, die Hoffnung, die zarten Versuche, wieder anzuknüpfen erkennt. Das fände ich sehr schön, weil dann hätte man etwas verstanden von der großen Ambivalenz der Gefühle. Es ist alles nicht so, wie es scheint, auf den ersten Blick, auch die Aggression ist eine enttäuschte Hoffnung."

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Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 27. Februar 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 1. März 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Sibylle Lewitscharoff, "Apostoloff", Suhrkamp

Link
Suhrkamp - Sibylle Lewitscharoff