Peter Altenberg zum 150. Geburtstag
Ein überzeugter Nicht-Nobelpreisträger
Als wunderlicher Vogel, als Narr von Wien lebte er leidenschaftlich unter den Menschen und war ihr Seelenseismograph: der altmodische Moderne Peter Altenberg. Die literarisch interessierte Welt feiert am 9. März 2009 seinen 150. Geburtstag.
8. April 2017, 21:58
Der Erste Weltkrieg schien, zumindest im Augenblick, das kleinere Übel. Arthur Schnitzler war mehr als verärgert, geradezu echauffiert, als ihm aus gut informierten Kreisen im Sommer 1914 zugetragen wurde, das Nobelpreiskomitee in Stockholm erwäge ernsthaft, den Preis für Literatur zu gleichen Teilen ihm und Peter Altenberg zuzusprechen.
Schnitzler gehörte, anders als der damals schon schwerkranke Altenberg, zu den ganz wenigen Intellektuellen in Österreich, die den Kriegsbeginn nicht bejubelten. Auch, weil ihm - und zwar aus tiefer Einsicht und schmerzlicher Erfahrung - alles Militaristische zuwider war. Dennoch: Die Vorstellung, so ist aus seinem akribisch geführten Tagebuch zu entnehmen, dass sein allein schon dem Umfang nach bedeutendes erzählerisches und dramatisches Oeuvre den vergleichsweise bescheidenen, ihrem Wesen nach fragmentarischen Skizzen- und Splittersammlungen aus Altenbergs Feder gleichgestellt würden, regte ihn mehr auf als der Kriegsbeginn. Damals, wie gesagt, und im Augenblick.
Salomonische Lösung
Es ist nicht zu beweisen, aber auch nicht auszuschließen, dass das Nobelpreiskomitee mit seinem demonstrativ offenen Ohr gegenüber der Nominierung beider österreichischen Dichter den Eklat vom Vorjahr applanieren wollte: 1913 war von österreichischer Seite - allerdings aus einem doch recht spezifischen ideologischen Lager - der gerade 70-jährige Peter Rossegger als Nobelpreiskandidat lautstark ins Spiel gebracht worden, wobei das deutschnationale Getöse der - vorzugsweise steirischen - Rossegger-Proponenten selbstverständlich bis nach Schweden drang; genauso wie die auch nicht gerade sanfte Antwort tschechischer Nationalisten, die dem seinerseits im Alter recht unglückselig politisierenden Heimatdichter angewandten Deutschnationalismus in tschechischen Schulfragen vorwarfen.
Die salomonische Lösung hatte damals, 1913, Rabindranath Tagore geheißen: Der indische Lyriker und Dramatiker, garantiert unbelastet durch zentraleuropäisches beziehungsweise innerösterreichisches Kriegszündeln, erhielt den Nobelpreis.
Seelen-Telegramme
1914 löste der Weltkrieg, der sonst so gar nichts löste, die unausweichliche, neuerliche Verlegenheit, indem er, seit langem heftigst geschürt, endlich losbrach: der Literaturnobelpreis 1914 wurde nicht vergeben (1915 erhielt ihn dann Romain Rolland).
Peter Altenberg, dessen literarische Selbst-Verwirklichungen und pointilistisch-impressiven Seelen-Telegramme gleich nach seiner ersten Buchveröffentlichung ("Wie ich es sehe", 1896) zuerst in Wien und dann im ganzen deutschen Sprachraum Furore machten (und dessen Einfluss auf zahlreiche Literaten seiner Zeit - von Karl Kraus über Robert Musil bis hin zu Franz Kafka! - gar nicht zu überschätzen ist), hatte am 9. März 1914, seinem 55. Geburtstag, wieder einmal ein Testament abfasst, das er an seine junge Bewunderin und wichtige Bezugsperson Paula Schweitzer adressierte.
Du bist also (...) meine Universalerbin (...). Welch ein pompöser Titel für jemanden, der nichts besitzt (...). Ich besitze den Ertrag meiner neun, bis zu meinem Tode vielleicht sogar zehn Bücher... Prachtausgaben zum Beispiel mit Photographien aller Frauen und Mädchen, die meinem ‚ästhetischen Ideale' entsprachen, zeitlebens! Ferner die gesamte Einrichtung meines Hotelkabinetts, das besät ist mit eingerahmten Photographien samt Texten, alles in engstem, also weitestem Zusammenhang mit meinem Leben und Weben, Preis mindestens 15.000 Kronen!
Es folgt eine ironische Lizitierung des gesamten Altenberg'schen Kleinkosmos, und zum Schluss der Satz:
Ein bisschen Optimismus gehört zum Leben, wenn man gestorben ist!
Ärger und Faszination des Fin de Siècle
Bevor er sein endgültiges "Hotelkabinett" im letzten Stock des "Grabenhotels" in der Wiener Dorotheergasse bezog, wo er zwischen gedrängtem Mobiliar, Waschtisch mit Krug und Lavoir, Flaschen und Aschenbechern und Erinnerungsstücken, vor allem aber zwischen Tapetenwänden hauste, die über und über mit Fotografien und Karikaturen behangen waren, auch entlang der Stiege zum Dachboden hinauf, und allesamt durch Auf- und Inschriften an den Rändern und querüber zu Textcollagen geadelt, bevor Altenberg also diese seine letzte Wohn-, Studier-, Vegetier- und Dichterstätte als letzte Lebensstation erreichte, hatte er einen monatelangen Aufenthalt in der (damals) niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt Am Steinhof hinter sich, der, im wesentlichen, eine Alkoholentziehungskur war. (Unter denen, die sich in dieser Situation um das hilflose Großkind Altenberg bemühten, war übrigens auch Arthur Schnitzler.)
Der "junge" Altenberg (die Anführungszeichen deswegen, weil P. A. schon 37 war, als er sein erstes Buch herausbrachte) faszinierte und ärgerte abwechselnd eine ganze Reihe von Künstlern und Intellektuellen des Fin de Siècle, aus heutiger Sicht die ganze Crème der Wiener Szene; vielleicht, weil der sonderbar kostümierte Poet, Schnorrer und Lebensleidende mit dem starken Hang zu Selbstinszenierung sowohl als auch zu vollkommener Hingabe zugleich Décadence und Aufbruch in einem verkörperte; zuweilen auch Großartig- und Lächerlichkeit zugleich.
Gefühlsstriche
Hätte er, der wehleidige Rebell und grandiose Wortfotograf, der die Dinge so aus dem Zusammenhang zu reißen wusste, dass sich darin die moderne Seele, das "Unrettbare Ich" ebenso spiegelte wie die gesellige Einsamkeit, die er durchschritt und notierte, hätte dieser Peter Altenberg 1914 den Nobelpreis bekommen - er wäre an seiner eigenen Welt- und Ich-Verzweiflung verzweifelt und hätte diesen unerlösten Jubel, wie so oft, in seine berühmten " --- ", seine Gedanken-Binde-Striche, eingepackt. Oder, wie sein großer Bewunderer (und Nachlass-Herausgeber) Alfred Polgar das zu sagen wusste:
"Altenberg schrieb eine Prosa von höchst lyrischem Reiz, Sätze, weit über ihrem Sättigungspunkt hinaus mit Empfindung voll; Gedankenstriche, besser: Gefühlsstriche fangen den Überfluss auf. (...) Eine ganz neue Art dichterischer Erfassung bezauberte: eine, die den Dingen an Herz griff, ohne sie anzurühren. Eine ganz neue Art indirekter Darstellung bezauberte: im Unwesentlichsten spiegelte sich das Wesentlichste."
In diesem einzigen Punkt hatte die Weltgeschichte Recht, 1914: Irgendwie hätte da ein Nobelpreis nicht dazu gepasst.
Hör-Tipp
Patina, Sonntag, 1. und 8. März 2009, 9:05 Uhr
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Projekt Gutenberg - Peter Altenberg