Eine westöstliche Geschichte des Blicks
Florenz und Bagdad
Der Kunsthistoriker Hans Belting vergleicht in seinem neuen Buch den Blick der westlichen Welt mit dem der islamischen Welt. Innerhalb dieser spielte Bagdad als kulturelles Zentrum auch für die Kunst des Westens eine entscheidende Rolle.
8. April 2017, 21:58
Mit seinem vielgerühmten Buch "Rot ist mein Name" schrieb Orhan Pamuk nicht nur Krimi und politische Allegorie, sondern auch einen Roman über Kunst. Ging es doch um einen Streit unter Miniaturmalern am osmanischen Hof, um einen Krieg der Malschulen im 16. Jahrhundert. Den Traditionalisten standen die nach "fränkischer" Manier arbeitenden Künstler gegenüber - jene mit einem westlichen Stil, der auch perspektivisches Malen mit einschloss. Diese Kunst aber bedeutete einen Tabubruch, lud sie doch zu einem verbotenen Blick auf Bilder ein und kam einer Schmähung Allahs gleich.
In Pamuks Roman soll ein Mord verhindern, dass der "Verrat" der einheimischen Maler, die heimlich die Perspektive der "ungläubigen" Meister erlernten, ans Tageslicht kommt und eine Verfolgung durch die Glaubensstrengen auslöst.
Dieses Beispiel, das kulturelle Differenzen ebenso illustriert wie Fundamentalismus und Glaubenszwang, zitiert ein Buch, in dem es weniger um Literatur, als um Kunst geht, um visuelle Darstellungen im Kulturenvergleich: Hans Beltings "westöstliche Geschichte des Blicks".
"Ich wollte vor allen Dingen nicht immer von Einfluss oder von Unterschieden reden", so Belting im Gespräch. "Ich wollte die Kulturen nebeneinander stellen - statt immer zu sagen, die tolle europäische Kultur ist halt mal vom Islam beeinflusst worden. Das, finde ich, ist nicht genug."
Kunst und Ästhetik in Orient und Okzident
Beltings ambitionierte Studie handelt von Giottos Malerei und Illustrationen in Koran-Handschriften, von Panoramen in Urbino und Wandbehängen aus Bursa, von der Erfindung des mathematischen Raums und Prospekten der Bühne, von Fensterbildern und Arabesken, Bilderverboten und Sehtheorien.
Dabei geht es nicht um traditionelle Kunstgeschichte. Es geht um einen "Kulturvergleich des Blicks", um Kunst und Ästhetik in Orient und Okzident. Für die eine Seite steht beispielhaft die italienische Renaissance, für die andere Kultur und Wissenschaft des arabischen Mittelalters. Oder knapper ausgedrückt: Für die eine steht Florenz, für die andere Bagdad.
"Florenz steht in meinem Buch ziemlich konkret für die Erfindung des perspektivischen Bildes, die in meiner Sicht der Dinge die wichtigste Bilderfindung war, die im Westen je gemacht worden ist", meint Belting. "Bagdad steht hingegen zunächst einmal als Zentrum der arabischen Welt im sogenannten Mittelalter und Ort des Kalifen der Abassiden in meinem Buch für die Blütezeit der arabischen Wissenschaft."
Herausragende arabische Gelehrte
Belting geht es in seinem Buch "Florenz und Bagdad" um die Rehabiltierung einer - weitgehend unterschätzten - islamischen Kultur, die in der Zeit um 1.000 nach Christi keineswegs nur das Wissen der griechischen Antike nachbuchstabierte. Lebten und lehrten in dieser Zeit doch so herausragende Köpfe wie der Mathematiker und Philosoph Ibn al-Haitham, in der lateinischen Welt Alhazen genannt, der, so Belting, das Projekt der exakten Wissenschaften vorweggenommen und auch durch seine Psychologie und Ästhetik das Weltbild seiner Zeit zum Ausdruck gebracht habe.
Er war es auch, der in seinem "Buch der Sehtheorie", im Westen rezipiert unter dem Titel "Perspectiva", eine vermeintlich genuin europäische Erfindung antizipiert hat: die Erfindung der Zentralperspektive. Schon 400 Jahre vor dem Florentiner Brunelleschi, der in öffentlichen Experimenten mit Täfelchen und Spiegeln den "Mechanismus" der Zentralperspektive demonstrierte, lieferte Alhazen die Grundlagen dazu. Der Kunst der Perspektive, so Beltings zentraler Befund, liegt also eine Theorie arabischen Ursprungs zugrunde.
Bilderlose Blicke
Während ein arabischer Denker mit einer später im Westen zur Bildästhetik umgeformten Sehtheorie als Vater der Perspektive gilt, gab es in der damaligen arabischen Kunst selbst weder eine perspektivische Darstellung, noch eine Bildkunst im eigentlichen Sinn: Belting spricht von "bilderlosen Blicken". Nur in Buchillustrationen gab es gegenständliche Darstellungen.
Dafür sind religiöse Gründe verantwortlich: das Bilderverbot. So beschränkt sich die islamische Kunst auf Geometrie und Ornament. Sie ist gemalte Mathematik. Die Schönheit als Regelmäßigkeit der Form soll den Geist vom Profanen befreien den Betrachter empfänglich machen für die Ordnung Gottes.
"Für mich ist Geometrie eine Frage, das Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen - auf eine für uns abstrakte Weise", sagt Belting. "Jenseits der arabischen Sprache ist die Geometrie mit ihrem kosmischen Einschlag eine allgemeine symbolische Form gewesen, sich eine Welt vorzustellen, die von Gesetzen regiert ist, die nicht vom Menschen gemacht werden."
Blick nach innen und außen
Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Ästhetik - oder, in Beltings Terminologie, westlichem und östlichem Blick - kann kein Motiv so deutlich erhellen wie das Motiv des Fensters. Die europäische Kunst kennt das Fenster als Rahmen, als Begrenzung, als Öffnung eines Bildraums. Das Verfahren der Perspektive simuliert den Blick des Betrachters - und weckt die Illusion, die Welt im Bild zu kontrollieren.
Ganz anders die symbolische Funktion der Fenstergitter im Islam. Die geometrischen Muster der sogenannten Muqarnas oder Maschrabbiyyas kennen weder Zentrum noch Fluchtpunkt, scheinen dem Betrachter einen festen Standort zu entziehen und wollen dessen Aufmerksamkeit nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen lenken.
"Gemälde sind Fenster. Ich blicke hier nicht durch ein wirkliches Fenster, sondern durch ein gemaltes Fenster in die Welt hinaus", erklärt Belting. "Gehe ich jetzt aber in die islamische Welt, so sehe ich, dass diese Fenstergitter vor allen Dingen dazu dienen, das Licht hereinzulassen. Das Symbolische dabei war, dass der Lichtstand durch ein Zimmer wandert in einem Muster, welches das Fenstergitter bildet, und damit gewissermaßen der Eintritt dieser Lichtpräsenz in der Welt abgebildet ist im Innern."
Pointierte Darstellung
Hans Beltings mit zahlreichen Illustrationen ausgestattetes Buch "Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks" zielt nicht auf einen lückenlosen Kulturvergleich, vielmehr auf eine pointierte, schlaglichtartige Darstellung bestimmter Merkmale und Errungenschaften. Da es dabei nicht nur um Kunst, sondern auch um ihre Voraussetzungen und ihre Bedeutung geht, tauchen bei Belting nicht nur Giotto, Bellini und Co. auf, sondern auch Wissenschaftler - wie der hochgeschätzte Alhazen, der Renaissance-Philosoph Biagio Pelacani oder zeitgenössische Mathematiker.
Belting will das Zerrbild eines fortschrittlichen Westens, dem ein fundamentalistischer Osten hinterherhinkt, zurechtrücken. In Zeiten, wo immer wieder der ominöse "Clash of civilizations" bemüht wird, motiviert sein Buch die Absicht, "beide Kulturen auf gleiche Augenhöhe zu bringen". Dazu dient sein System der "Blickwechsel" - Rezensenten nennen Beltings Methode auch vergleichende Psychohistorie oder komparative Kulturmorphologie -, das überraschende, wenn auch nicht immer leicht nachzuvollziehende Einblicke garantiert. Höchst anregend, aber bisweilen etwas kursorisch, gelehrt, aber nie belehrend, macht es die besondere Eigenart dieses Buches aus, dass vieles nicht aus-, sondern nur andiskutiert wird - wie Orhan Pamuks Roman über einen tödlichen Streit in der Kunst des Islam.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Hans Belting, "Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks", Verlag C. H. Beck
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C. H. Beck - Hans Belting