Cornelius Hell erinnert sich
Erwachendes Vilnius
1984 zog Cornelius Hell für zwei Jahre nach Vilnius. "Wenn ich 20 Musikkassetten und meine Pfeife mithabe und mit Kaffee versorgt bin, kann nichts schief gehen", meinte er damals. Es ging nicht schief, und Vilnius besucht er heute noch gern.
8. April 2017, 21:58
Der Salzburger Germanist Cornelius Hell machte sich 1984 auf nach Litauen, in eine absolute Terra incognita und begann in der Folge Vilnius, die Hauptstadt, nach und nach zu durchstreifen. Zwei Jahre lang war er Lektor für deutsche Literatur an der Universität in Vilnius. Seit dieser Zeit lässt ihn diese Stadt nicht mehr los, er übersetzte zahlreiche Texte aus dem Litauischen, gab die Anthologie "Meldungen über Gespenster. Erzählungen aus Litauen" heraus und erhielt 2004 den Übersetzerpreis des Litauischen Lyrikfestivals Frühling der Poesie. Jetzt ist sein Buch "Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth. Erwachendes Vilnius" im Picus Verlag erschienen.
Geschichte und Geschichten
Die Gegensätze sind es, die Cornelius Hell interessieren: Das Labyrinth der Altstadt, aufgenommen in das UNESCO Weltkulturerbe, steht den Plattenbauten und neuesten Wolkenkratzern gegenüber. Die reiche Geschichte der Stadt findet in dieser Picus-Lesereise daher ebenso ausreichend Platz wie die rasanten Entwicklungen der heutigen Zeit.
25 Jahre kennt Cornelius Hell die Stadt am Fluss Neris, er durchstreift sie, erzählt ihre Geschichte und Geschichten, blickt in ihre Abgründe, beschreibt ihr Licht und ihre dunklen Flecken. Ein sehr persönliches, auch historisch höchst fundiertes Buch ist entstanden.
Im Gespräch erzählt Cornelius Hell über seine Erfahrungen in und mit Vilnius.
Cornelius Hell über das Prinzip Zufall
"Für mich ist Vilnius der Garant dafür, dass der Zufall glücken kann. Ich kam 1984 hierher, ich kannte niemanden. Es hatte vorher keinen Germanistik-Lektor gegeben, daher wusste nicht, wie gut die Leute Deutsch können würden. Was sollte ich unterrichten, was sollte ich mitnehmen? Ich wusste auch nicht, wie meine Küche und meine Wohnung ausschaut. Man konnte ja damals nicht so einfach anrufen und fragen. Ich hatte aus DDR-Büchern und Gedichten von Johannes Boborowski irgendein Bild im Kopf, wie die Stadt sein könnte. Aber mehr nicht und so hätte ja alles auch schief gehen können.
Meine Zuversicht damals war: Wenn ich mit Literatur zu tun habe in der Arbeit und an der Universität bin, wenn ich 20 Musikkassetten und meine Pfeife mithabe und für die nächsten Monate mit Kaffee versorgt bin, kann eigentlich nichts schief gehen. Und wenn es schief geht, dann hau ich zu Weihnachten ab und komme nicht wieder. Aber es ist nicht schief gegangen. Das hat mich bestärkt, dass sich so ein Wagnis lohnt und der Zufall gut ausgeht."
Cornelius Hell über das fremd-vertraute Vilnius
"In Vilnius gibt es eine Altstadt, alte Bauten gibt es, ein Flair, Kaffeehäuser gibt es. Da kann ich mich wohlfühlen. Man findet hier uns vertraute Baustile: viel Barock, es gibt alles außer der Romanik und es gibt eine unglaubliche labyrinthische Verwinkeltheit, denn die Gassen sind eigentlich mittelalterliche gotische Gassen und der Barock ist hinein gebaut. Ich habe beim Schreiben des Buches immer den Stadtplan am Schreibtisch gehabt, dass ich ja nicht irgendwo in ein falsches Seitengässchen hineingehe.
Die Innenstadt ist hochkompliziert verwinkelt, daher entdeckt man auch immer etwas Neues, aber man irrt sich sehr leicht, denn man sieht nicht das Ende einer Gasse, man sieht nicht geradeaus. Mit einer Ausnahme: der Gediminas-Prospekt, dieser Prachtboulevard aus dem 19.Jahrhundert führt geradeaus vom Burgberg, von der Kathedrale ganz gerade bis zum Fluss Neris. Das sieht man auch auf den Luftbildern, das ist die große Ausnahme. Und diese Verwinkeltheit ist überschaubar, hat etwas Heimeliges und die Altstadt von Vilnius ist bis heute nicht grell erleuchtet, sondern es herrscht eine etwas abgedunkelte, abgedämpfte Atmosphäre."
Cornelius Hell über die Veränderung der Stadt
"1984, vor 25 Jahren, war Vilnius eine heruntergekommene sowjetische Provinzstadt, aber doch auch nicht ganz, denn gleichzeitig war zumindest die Universität ein Aushängeschild. Damals war sie die älteste Universität auf sowjetischem Boden. Dieses Vilnius war nicht ganz kaputt, aber heute frage ich mich schon manchmal: Wie lange hätten die Gebäude den Kommunismus noch ausgehalten? Es war einfach kein Geld da, keine Mittel und zum Teil auch kein Wille, es zu restaurieren. Manches wär wahrscheinlich einfach eingestürzt. Alles war Grau in Grau und es war Sowjetunion mit allem, was dazu gehört, zum Beispiel mit Schlange-stehen vor den Geschäften. Die Qualität der Nahrungsmittel in den Geschäften war so schlecht, dass mir einmal eine Verkäuferin in einer Konditorei vorm Kauf einer Torte abgeraten hatte.
Es war eine zweigeteilte Welt: einerseits von einer großen Herzlichkeit, alle hatten Zeit und waren gastfreundlich, auf der anderen Seite herrschte eine Ruppigkeit von außen, die man sich kaum wer vorstellen kann. Manchmal wundere ich mich, dass die Veränderungen, die sich vollzogen haben, in meinem Leben stattgefunden haben, dass ich ein Teil dieser Entwicklungen bin. Wenn ich heute jungen Litauern von früher erzähle, können sie das nicht fassen."
Cornelius Hell über Vilnius nach der Wende
"Es gibt relativ wenige Bausünden, außer dem Novotel am Gediminas-Prospekt, das nicht hineinpasst, aber das Leben hat sich massiv verändert. Die Leute haben keine Zeit mehr. Früher hatten die Leute Zeit, aber keine Perspektive, jetzt haben die Leute Perspektiven, aber dafür keine Zeit, das ist eigentlich logisch.
Das Problem ist, dass es die Perspektive nicht für alle gibt: die alten Menschen. Was mir nie aus dem Kopf geht, sind die alten Frauen, die vor diesem mondänen Novotel ihre Maiglöckchen und Astern aus dem Garten verkaufen müssen, um irgendwie überleben zu können. Ich habe das Gefühl, dass die ganze EU die alten Menschen in den Reformländern stillschweigend abgeschrieben hat, denn die Staaten haben kein Geld und zum Teil keinen Willen, und die EU, die von der Gurke bis zur Glühbirne alles regelt und europäische Werte einmahnt, für die sind die Alten, die sich die Heizung ihrer Wohnung nicht mehr leisten können, kein Bestandteil der europäischen Werte, das muss man laut sagen! Das sieht man in Vilnius heute jeden Tag!"
Hör-Tipps
Ambiente, Sonntag, 15. März 2009, 10:06 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Mehr zu allen Sendungen des Programmschwerpunkts "Nebenan: Litauen" finden Sie hier.
Buch-Tipp
Cornelius Hell, "Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth. Erwachendes Vilnius", Picus Verlag
Link
Picus Verlag - Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth
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