Ab- und Seitenwege

Und hieb ihm das rechte Ohr ab

Clemens Berger versteht sich auf lakonische Kürze ebenso wie auf epische Breite. Seine fünf Erzählungen, die in diesem Band gesammelt sind, handeln von Menschen, die eine unstillbare Sehnsucht nach einem anderen, intensiveren Leben antreibt.

Als vor sechs Jahren in der verdienstvollen burgenländischen Edition "ex liszt" unter dem Titel "Der gehängte Mönch" Clemens Bergers erstes Buch erschien, eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten, vermerkte Erich Hackl euphorisch im "Spectrum" der "Presse": "Diesem jungen Autor steht die Welt offen, und er weiß sich in dieser Welt zu bewegen."

Ein philosophisch geschulter Geschichtenerzähler hatte sich hier zu Wort gemeldet und überzeugte als skeptischer Zeitgenosse ebenso wie als Konstrukteur doppelter Böden, zunächst innerhalb kleiner und überschaubarer, bald aber auch innerhalb großer und geräumiger Gebäude.

Auf den ersten Erzählband folgten mit "Paul Beers Beweis" und "Die Wettesser" zwei in Stoff, Stil und Aufbau höchst unterschiedliche Romane, die durchwegs positive Kritiken erhielten. Einen dritten Roman hat Berger derzeit in Arbeit – und mit dem Wallstein-Verlag in Göttingen auch eine dafür geeignete Heimstätte gefunden. Um die Wartezeit bis zum Erscheinen dieses Romans zu überbrücken, haben Autor und Verlag beschlossen, ihre Zusammenarbeit, ganz entgegen den üblichen Gepflogenheiten, mit einer Sammlung von Erzählungen zu beginnen.

Sehnsucht nach der Gegenwelt

Jede dieser fünf Erzählungen handelt von Menschen, die, ob sie es nun zugeben wollen oder nicht, eine unstillbare Sehnsucht nach einem anderen, intensiveren Leben, einer "Anders- und Gegenwelt" antreibt. Geben sie ihr restlos nach, so laufen sie nur allzu leicht Gefahr, zu entgleisen, aus ihrer angestammten Bahn geworfen zu werden und nicht nur ihrer Mitwelt, sondern auch sich selber abhanden zu kommen.

So ergeht es etwa dem Protagonisten der Geschichte "Aufreizendes Geplapper", einem erfolgsverwöhnten, sachte vor sich hin resignierenden Wiener Philosophieprofessor, der sich, an einem toten Punkt seiner intellektuellen und beruflichen Entwicklung angelangt, via Internet in ein erotisches Abenteuer stürzt.

Brüchige Existenz

So ergeht es, in wesentlich größerer Fallhöhe, auch dem Protagonisten der Titelgeschichte "Und hieb ihm das rechte Ohr ab", einem Mann in der Midlife-Crisis, dem seine kleinbürgerliche Existenz als Angestellter und Familienvater von Tag zu Tag fragwürdiger und brüchiger erscheint. In einem ausschließlich mit Laien aufgeführten Passionsspiel soll er den Judas spielen, und das löst in ihm etwas aus, das er weder abzuschätzen noch zu kontrollieren vermag. Mehr und mehr verliert er den scheinbar gesicherten Boden unter den Füßen und stellt mit einer Mischung aus Schrecken und Erleichterung fest, dass ihm alles seit jeher Vertraute im Handumdrehen fremd wird.

"Seit einiger Zeit verunsicherten ihn die Wörter", heißt es an einer Stelle, und kurz darauf lesen wir den Satz: "Was ihm bislang nicht bewusst gewesen war, dass alle, die er kannte, nur in Stichworten sprachen, erschien ihm mit einem Mal bemerkenswert."

An der Grenze

Angewidert vom Kunstbetrieb, in dem ebenfalls fast nur mehr Stichworte ausgetauscht werden, geht in der Geschichte "Eine schwere Geburt" wiederum eine Malerin an die Grenze, und das gleich in zweifacher Hinsicht: Sie siedelt sich nach langen Wanderjahren in der burgenländische Provinz an - und damit in einer Gegend, die bis vor 20 Jahren unmittelbar am Eisernen Vorhang lag, und löst mit einem Altarbild, das die Geburt Jesu auf äußerst nüchterne, realistische Weise darstellt, einer Auftragsarbeit für eine dortige Kirche, einen enormen Skandal aus.

Religiosität in ihrer christlich-katholischen Ausprägung spielt in diesem Buch eine erstaunlich große und erwartungsgemäß ambivalente Rolle. Sie gehört zu dem Milieu, aus dem etliche Figuren stammen, ist Teil jener Welt, in der ihre Geschichten verortet sind und damit immerhin auch einer jener Rahmen, aus denen man jederzeit fallen kann.

Suche nach vollkommener Zweisamkeit

Nicht von ungefähr ist es eine römische Kirche, San Luigi dei Francesi, in der die zwischen Rom, Wien und Paris spielende Liebesgeschichte ihren Anfang nimmt, die den Titel "So warm im Kopf" trägt und in ihrer Poesie, ihrer verträumten Weitschweifigkeit und Verspieltheit wohl die eindrucksvollste der hier vorliegenden Erzählungen ist. Der Ich-Erzähler begibt sich darin auf die Suche nach einer vollkommenen Zweisamkeit und muss sie schließlich verloren geben, ohne deshalb aber auch nur eine einzige Erinnerung daran preiszugeben.

Das Gegenstück zu dieser lichtvollen und farbenreichen Novelle ist die rasant im Stil einer klassischen amerikanischen Short-Story erzählte Dreiecksgeschichte "Just because the sky", von ganz und gar anderer, drückender Atmosphäre, im Tonfall wesentlich rauer und mit einem ungleich offeneren Ende versehen. Nach kargen, gehetzten Zwiegesprächen und knappen Schilderungen mündet sie in den Satz: "Er küsste sie, sie strich kurz über seinen Hinterkopf, dann stieg sie in den Bus."

Geschichten in Mäandern

Clemens Berger versteht sich auf derart lakonische Kürze ebenso wie auf epische Breite und legt großes Augenmerk auf unscheinbare Ab- und Seitenwege. Das Geschehen steuert in seinen Geschichten kaum je schnurgerade, sondern in Mäandern auf einen Höhepunkt, eine die Spannung lösende Klimax, eine erlösende Katastrophe zu. Die meisten von ihnen verfügen somit über eine markante, überraschende Schlusspointe, doch wird diese nicht krampfhaft anvisiert, nicht angestrengt herbeigeschrieben, sondern taucht irgendwann wie von selber auf, stellt sich mühelos ein.

Die Sprache ist mitunter abgehackt und stakkatohaft, über weite Strecken jedoch ruhig und von geradezu klassischer Schlichtheit und Ausgewogenheit. In reizvollem Kontrast dazu steht eine alles andere als schlichte Erzählstruktur. Der Autor liebt rasche Perspektivenwechsel und verabscheut die öde Chronologie der Ereignisse und den linearen Erzählablauf. Ständig springt er von einer Vergangenheit in die andere und von dort wieder zurück in die Gegenwart, und man hat als Leser bisweilen einige Mühe, mit ihm Schritt zu halten und die Übergänge, die Stufen und Schwellen, die eine Zeit von der anderen trennen, nicht zu übersehen.

Die Leichtigkeit, die wenigstens für einzelne Augenblicke erträgliche Leichtigkeit des Seins, nach der sich viele seiner Figuren - die allermeisten vergeblich - sehnen, hat Berger in seiner Sprache längst erreicht. Es ist unverkennbar die Sprache eines Passanten, der mit wenig Gepäck unterwegs ist und jedes Mal mit einer Vielzahl an überraschenden Beobachtungen und unerhörten Begebenheiten von seinen Reisen zurückkommt.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 15. März 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Clemens Berger, "Und hieb ihm das rechte Ohr ab. Erzählungen", Wallstein Verlag

Wallstein Verlag - Clemens Berger