Vom biologischen zum kulturellen Phänomen

Verbotenes Begehren

Inzest, die sexuelle Beziehung zwischen nahen Verwandten, ist eines der wenigen universalen Tabus der Menschheitsgeschichte. Was als verwandtschaftlich "nah" gilt, kann aber, je nach Gesellschaft und geschichtlicher Epoche, sehr unterschiedlich sein.

Zur Entstehung von Inzestverboten gibt es verschiedene Theorien: Die heute noch populärste ist die biologische. Diese geht davon aus, dass Inzestverbote schon früh deshalb entstanden seien, weil man Schädigungen bei der Nachkommenschaft beobachtet habe.

Eine Theorie, die hinterfragt wurde, da sie zum einen lange Beobachtungszeiträume voraussetzt und zum anderen die Folgen von Inzest nicht immer gleich sind. So macht dieser zwar rezessive Erbanlagen manifest, jedoch nicht notwendigerweise zum Schaden für die Nachkommen.

Eine zweite Theorie beruht auf der Annahme, dass gemeinsames Aufwachsen von Kindern zu einem gewissen sexuellen Desinteresse führe, was spätere empirische Untersuchungen auch tatsächlich bestätigten. Sigmund Freud war es, der die kindliche Sexualität in den Vordergrund rückte und inzestuöses Begehren als prägend für innerfamiliäre Beziehungen beschrieb, Stichwort "Ödipuskomplex".

Das Inzestverbot, so Freud, diene dazu, diesem Begehren, das er vor allem für sozial schädlich hielt, Einhalt zu gebieten. Die bisher überzeugendste Theorie zum Inzesttabu lieferte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss. Dieses sei weniger als Verbot, denn als Gebot zu sehen, Sexual- respektive Ehepartner außerhalb der engeren sozialen Gruppe zu suchen, um Allianzen zu bilden und damit das Überleben der eigenen Gruppe zu sichern. Sein Entstehen sei damit ein kulturelles Phänomen.

Inzestverbote und Machtinteressen

Was als sexuell tabu gilt und was nicht, wurde immer auch religiös bestimmt. In Europa formulierte die Kirche schon früh Inzestverbote als Verbote der Verwandtenheirat. Dabei spielten nicht nur Reinheitsvorstellungen eine Rolle. Es eröffneten sich damit auch große Einflussmöglichkeiten auf Allianzbildungen innerhalb der Herrscherhäuser.

Aus kirchenrechtlicher Sicht stellten bis 1917 Verwandtschaft und Schwägerschaft bis zum vierten Grad ein Ehehindernis dar, das nur durch eine bischöfliche oder päpstliche Dispensation aufgehoben werden konnte. Besonders der Adel, für den Heiraten in der näheren Verwandtschaft von großem politischem Interesse waren, machte davon häufigen Gebrauch.

Inzest vor Gericht

Das Strafrecht orientierte sich - zumindest im österreichischen Raum - sehr lange am kanonischen Recht. Für sexuelle Beziehungen zwischen direkt Blutsverwandten stand lange Zeit die Todesstrafe, für jene der Seitenlinie (Geschwister, Cousin-Cousine, Onkel-Nichte, Tante-Neffe und Schwiegerverwandte) waren öffentliche Züchtigung und Landesverweis vorgesehen, für alle entfernteren Verwandtenbeziehungen arbiträre Strafen, je nach Gutdünken der Gerichte.

1783, mit dem Josephinischen Ehepatent, wurden die Ehehindernisse im Zivilrecht auf den zweiten Verwandtschaftsgrad reduziert.

Unterschiedliche Rechtslage heute

Als Straftatbestand gibt es Inzest - bis auf wenige Ausnahmen - heute noch in den meisten europäischen Ländern. Eine dieser Ausnahmen ist Frankreich, wo - in Folge der Revolution - bereits 1810, mit dem Code Civil, der entsprechende Gesetzesparagraph abgeschafft wurde.

In Deutschland und in Österreich zum Beispiel wird Inzest heute nur mehr zwischen in gerader Linie Verwandten strafrechtlich verfolgt, also zwischen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und deren Kindern, Enkelkindern und Urenkelkindern sowie zwischen Geschwistern und Halbgeschwistern.

Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 18. März 2009, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Claude Lévi-Strauss, "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft", Verlag Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1993

Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hg.), "Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht", Vienna University Press, Wien 2007

Jutta Eming, Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski (Hg.), "Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge", Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2003

Claudia Jarzebowski, "Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert", Verlag Böhlau, Köln/Weimar 2006

Herbert Marcuse, "Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud", Verlag Suhrkamp

Gertraud Diem-Wille, "Die frühen Lebensjahre. Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion", Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007