Der See entkommen

Schiffbruch mit und ohne Tiger

Seefahrer, sagt man, lernen nicht schwimmen, um den Tod im Meer nicht unnötig lange hinauszuzögern. Was aber passiert mit Schiffbrüchigen, die nicht sofort ertrinken? Wie überleben sie? Was erleben sie? Fragen, die auch Schriftsteller bewegten.

Die älteste Schiffbruchgeschichte ist etwa 4.000 Jahre alt und stammt aus dem Alten Ägypten. Sie ist nur bruchstückhaft erhalten, auf dem Papyrus "Leningrad 1115", und wurde in der altägyptischen Schreiberausbildung als Abschreibe-Übungstext verwendet. Sie wird von einem überlebenden Offizier erzählt, der dem Pharao Bericht erstattet. Was er erlebte, nachdem ihn eine gütige Welle an den Strand einer einsamen Insel gespült hatte, wie er vom einzigen Bewohner des Eilandes, einer riesigen Schlange, aufgenommen wurde, und wie er schließlich nach 40 Tagen gerettet wurde, lässt den Verdacht aufkommen, dass alle nachfolgenden berühmten Schiffbrüchigen-Geschichten von dieser einen abgeschrieben wurden. Hier begegnet man ihnen zum ersten Mal, beginnend beim wundersamen Überleben, der Begegnung mit einem seltsamen Monster, der Entdeckung eines kleinen verborgenen Schlaraffenlandes, sowie dem Unvermögen, diese Insel nach dem Wiedereintritt in einen geregelten Alltag wieder zu finden.

Robinsons Insel

Die einflussreichste Schiffbruchgeschichte schrieb Daniel Defoe, der als englischer Kaufmann sehr viel mit Schiffen zu tun hatte. Der Verlust mehrerer Schiffsladungen zwang ihn 1692 in den Konkurs, doch gelang es ihm, sich und seiner Familie durch ungebrochenen Unternehmergeist eine neue Lebensgrundlage zu schaffen - eine Zeitlang zumindest, denn durch seine nebenberufliche Tätigkeit als Schriftsteller galt er als aufrührerisch und wurde eingesperrt.

In seinem Denken spielt die Seefahrt eine große Rolle, so schrieb er zum Beispiel ein Kompendium über die damals tätigen Piraten. Zu seinem berühmtesten Roman "Robinson Crusoe" regten ihn die Berichte über die vier Jahre des Seemannes Alexander Selkirk an, der sich vor der Küste Chiles auf einer der Juan-Fernandez-Inseln aussetzen ließ.

Defoe selbst verdiente an "Robinson Crusoe" knapp 50 Pfund und ein paar wenige Prozente aus dem verkauf der Bücher. Sein Verleger hingegen wurde reich.

Floß des Schicksals

Die aufwühlendste Schiffbruchgeschichte, die auch politische Konsequenzen nach sich zog, war die vom Untergang der "Medusa". Nach einem Navigationsfehler lief die "Medusa" vor der westafrikanischen Küste im Juni 1816 auf Grund. Weil für die 400 Menschen an Bord zu wenige Beiboote mitgeführt worden waren, entschied der Kapitän, dass ein Floß gebaut werden solle. Am 5. Juli wurde das Floß mit Wasservorräten, Lebensmitteln und etwa 200 Menschen beladen und von einem der Rettungsboote in Schlepp genommen.

Weil es auf Grund von Konstruktionsfehlern mehr unter als über Wasser und daher kaum zu ziehen war, kappte der Befehlshaber die Schleppleine und überließ das Floß seinem Schicksal. Mehr als zehn Tage trieb das Floß im offenen Meer. Die 15 Überlebenden berichteten von Todesangst, Haiangriffen, Mord und Kannibalismus. Dem Gedenken der Opfer sind mehrere Gemälde - das berühmteste stammt von Théodore Géricault - und das Oratorium "Das Floß der Medusa” von Hans Werner Henze gewidmet.

Der Inder und der Tiger

Die skandalträchtigste Schiffbruchgeschichte stammt von Yann Martel, dem kanadischen Schriftsteller. Er erzählt von einem jungen Inder namens Pi Patel, der 227 Tage in einem Rettungsboot im Pazifik überlebt - gemeinsam mit einem bengalischen Tiger. Martel hatte sich zu diesem Roman, "Schiffbruch mit Tiger", von einer Rezensionsnotiz anregen lassen, in der "Max e os felinos" besprochen wurde, eine Novelle des brasilianischen Schriftstellers Moacyr Scliar, in der ein Jaguar die Rolle des Mit-Leidenden zugedacht war.

Die Plagiatsvorwürfe, die sich in Luft auflösten, brachten beiden Schriftstellern, Martel und Scliar, zusätzliche Publicity. Die Leser liebten Martels Roman, er wurde nicht nur mit dem Booker Price 2002 geehrt, sondern auch 2004 von "30 millions d'amis", der französischen Stiftung zum Wohl der Haustiere, ausgezeichnet.

Moraldebatte

Die exemplarischste Schiffbruchgeschichte stammt aus dem antiken Griechenland: Der Philosoph und Rechtsgelehrte Karneades stellte im 2. Jahrhundert vor Christus die Frage, was mit einem Überlebenden geschehen solle, der sein Überleben mit dem Tod eines anderen Menschen erkauft hatte. Man stelle sich, so lautete seine Überlegung, zwei Schiffbrüchige vor, die sich beide an ein schwimmendes Brett klammern. Dieses Brett ist aber zu fragil, um beide zu tragen. Ist der Überlebende ein Mörder? Soll er bestraft werden, warum und mit welchen Rechtsmitteln? Eine Frage, die auch heute noch Kopfzerbrechen bereitet, etwa wenn überlegt wird, ob man ein vollbesetztes Passagierflugzeug abschießen dürfe, wenn ein Terrorist drohe, den Flieger auf eine Stadt stürzen zu lassen.

Bliebe noch die Frage zu klären, ob man wirklich 227 Tage auf dem Ozean überleben kann, wie Yann Martel postuliert. Die Realität gibt ihm recht: Ein chinesischer Schiffssteward namens Poon Lim überlebte 1942 im Südatlantik 133 Tage. Und drei mexikanische Fischer wurden im August 2008 nach neun Monaten und neun Tagen, also 291 Tagen, aus ihrem manövrierunfähigen Boot, in dem sie über den Pazifik trieben, gerettet.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 26. März 2009, 11:40 Uhr

Buch-Tipp
Yann Martell, "Schiffbruch mit Tiger", S. Fischer Verlag

Links
Fondation 30 millions d'amis
Herald Tribune - Artikel über mexikanische Schiffbrüchige (englisch)